Coronabekämpfung in China: Aus Schutz wird Überwachung
Chinesische Behörden haben die Pandemie genutzt, um soziale Kontrolle im Land zu vertiefen. „Null Covid“ diente dabei als politischer Machterhalt.
Seit fast zwei Monaten steht die Zukunft von Zhang Sheng auf der Kippe: Der Chinese, der eine kleine Fabrik in der Provinz Zhejiang führt, hat seine gesamten Ersparnisse bei der örtlichen Bank eingezahlt. Doch wie unzählige andere Sparer auch hat er keinen Zugriff mehr auf sein Geld. Als sich Zhang allerdings zu Beginn der Woche mit Gleichgesinnten zum gemeinsamen Protest in der Zehn-Millionen-Metropole Zhengzhou verabredete, wurde er noch am Bahnhof festgesetzt: Sein sogenannter Gesundheitscode, den jeder Bürger seit der Pandemie bei Reisen vorzeigen muss, ist unerwartet von „grün“ auf „rot“ umgesprungen. Das bedeutet im Klartext: Quarantäne. Die Behörden führten ihn in eine Hoteleinrichtung ab, ehe er die Stadt unverrichteter Dinge wieder verlassen musste.
Seit 2020 haben die Behörden in China unter dem Vorwand des Coronaschutzes einen flächendeckenden Überwachungsstaat aufgebaut, der noch vor wenigen Jahren undenkbar erschien: In Peking etwa lässt sich kein Supermarkt mehr betreten, ohne dass sich Besucher mit ihrem Smartphone digital registrieren. Mindestens alle drei Tage müssen die Hauptstadtbewohner zudem vor den Testzentren warten, um einen verpflichtenden PCR-Test zu machen.
Auch vor den Wohnanlagen wachen rund um die Uhr Nachbarschaftskomitees mit roten Armbinden, um die Bewegungsflüsse der Leute zu kontrollieren: Meist werden sie zudem von Kameraanlagen unterstützt, die vor der Haustür die Körpertemperatur und die Identität eines jeden Besuchers erfassen. Und vor allem muss man überall seinen Gesundheitscode vorzeigen. Er ist wie ein digitaler Corona-Ausweis, ohne den niemand ein Restaurant, die U-Bahn, geschweige denn einen Hochgeschwindigkeitszug betreten darf.
Am Beispiel der Bankschuldner von Zhengzhou hat sich nun erstmals offen gezeigt, was viele Experten seit jeher vermuten: dass die Coronamaßnahmen in China zunehmend zur sozialen Kontrolle zweckentfremdet werden. Denn wie sich herausstellte, wurden gezielt Dutzende chinesische Anleger daran gehindert, gegen die Kommunalbanken zu protestieren, die nach illegalen Spekulationen die Vermögen von Tausenden Kleinsparern eingefroren hatten.
Berichte trotz Zensur
Die Reaktion auf den Skandal stimmt zumindest optimistisch. Denn im Vergleich zu anderen Angelegenheiten, die von der Zensur unter den Teppich gekehrt werden, konnten einige chinesische Medien offen über die Causa berichten. Und ebenso bemerkenswert ist auch die offene Kritik selbst von führenden Parteimitgliedern: „Die Gesundheitscodes sollten nur zu Zwecken der Pandemieprävention verwendet werden und auf keinen Fall für andere soziale Regulierungen“, schreibt etwa Hu Xijin, der als ehemaliger Chefredakteur der nationalistischen Global Times zu den führenden Publizisten des Landes zählt. Auf seinem Weibo-Account, einer Art chinesischem Pendant zu Twitter, erhält er dafür großen Zuspruch: „Die Privatsphäre der Bürger muss geschützt werden. Man darf nicht aufgrund der Seuchenprävention die zivilisatorischen Prinzipien ignorieren“, schreibt ein User. Ein anderer meint: „Das Land sollte gesetzmäßig regiert werden.“ Und auch ein in Peking ansässiger Rechtsanwalt schreibt in einem Posting unmissverständlich: „Wenn andere Städte dieser Art von Missbrauch folgen werden, dann bleibt von der Rechtsstaatlichkeit nichts mehr übrig.“
Doch gleichzeitig erfolgt jene Art von Missbrauch unter dem Vorwand des Coronaschutzes alles andere als überraschend. China-Korrespondenten haben ihn seit Ausbruch der Pandemie bereits wiederholt erfahren: Wer in „sensiblen“ Regionen auf Reportage ist, wird nicht selten von den Lokalbehörden mit schikanierenden Maßnahmen an der Arbeit gehindert. Oft wird von der Sicherheitspolizei eine willkürliche Quarantäne angedroht oder kurz vor geplanten Interviews zum verpflichtenden PCR-Test aufgerufen, obwohl der letzte nur wenige Stunden zurückliegt.
Und auch der Lockdown in Schanghai lässt sich nicht zuletzt als politische Machtdemonstration gegen die internationale Finanzmetropole begreifen. Knapp 26 Millionen Einwohner wurden dort zwei Monate in ihre Wohnungen eingesperrt, dabei hatte der Großteil von ihnen niemals direkten Kontakt mit Covid-Infizierten.
Dystopischer Polizeistaat
Die New York Times betitelte die „autoritären Exzesse“ zuletzt in einer Überschrift als „Xinjiangisierung“ – in Anlehnung an die muslimisch geprägte Region, in der der chinesische Sicherheitsapparat einen dystopischen Polizeistaat errichtet hat. Der direkte Vergleich mag absurd erscheinen, doch die Parallele eines vollkommen überwachten Alltags hält durchaus stand.
Denn tatsächlich ist die soziale Kontrolle in allen größeren Städten Chinas seit der Pandemie so engmaschig wie zuletzt wohl unter Staatsgründer Mao Zedong. Das hat durchaus auch skurrile Folgen: Bereits seit Anfang 2020 stellten sich etliche Verbrecher nach Jahren auf der Flucht freiwillig bei der Polizei, da ihr Alltag im Untergrund zum unmöglichen Spießrutenlauf geworden ist. Überall, selbst zum Supermarkteinkauf, mussten sie nun schließlich ihren Gesundheitscode vorzeigen, der mit der Identität eines jeden Bürgers verknüpft ist.
Das System basiert auf den GPS-Daten der Smartphone-Nutzer, anhand derer eine Art dreistufige Risikobewertung ermittelt wird. Wer sich in den letzten zwei Wochen ausschließlich in Niedrig-Risiko-Gebieten aufgehalten hat, keinerlei Gebäude mit bestätigten Corona-Infektionen besucht und regelmäßige PCR-Tests absolviert hat, bekommt demnach einen grünen Gesundheitscode zugewiesen. Ein gelber Code bedeutet bereits, nicht mehr reisen zu dürfen. Und mit einem alarmierenden „rot“ darf man de facto nicht einmal mehr die eigene Wohnung betreten, sondern wird direkt in Quarantäne abgeführt.
Feindbild Westen
Dabei sind dies nur die Folgen der direkten Maßnahmen. Die Pandemie hat zudem auch viele politische Entwicklungen beschleunigt, deren Auswirkungen noch lange nachwirken werden – allen voran die zunehmende internationale Isolation der Volksrepublik China.
Zuletzt hatte die Regierung ein De-facto-Ausreiseverbot für die eigenen Staatsbürger eingeführt. Wer das Land verlassen möchte, muss mittlerweile einen „essenziellen“ Grund vorweisen können, also etwa ein Auslandsstudium oder einen gesundheitlichen Notfall in der engeren Familie. Neue Reisepässe werden zudem nur mehr selten ausgestellt.
Die „Null Covid“-Strategie diente dabei nur als Anlass. Als willkommenen Nebeneffekt missbrauchen die staatlichen Autoritäten die Pandemie dazu, die urbanen Bevölkerungsschichten enger an ihr Heimatland zu binden – und ihre Beziehungen zum ideologisch zunehmend als Feind betrachteten Westen zu kappen.
Soziales Experiment
Insofern ist die Coronapandemie in China auch ein riesiges soziales Experiment, dessen langfristige Folgen wohl erst in vielen Jahren vollständig absehbar werden. Und je mehr sich die Bevölkerung an den neuen Normalzustand gewöhnt, desto stärker dürfte die paranoide Parteiführung in Peking versucht sein, weite Teile der Corona-Überwachung auch auf Jahre hinaus weiter beizubehalten. Denn unter Xi Jinping mehren sich bereits die Zeichen, dass die Regierung zunehmend gewillt ist, im Gegenzug für soziale Kontrolle und den eigenen Machterhalt auch das wirtschaftliche Wachstum zu schröpfen.
Ob die Strategie aufgeht, wird sich noch zeigen. Zwar hat die Bevölkerung im heutigen China angesichts einer unterdrückten Zivilgesellschaft und gleichgeschalteten Medienlandschaft kaum Möglichkeiten zur direkten Kritik. Dennoch könnte die Lage irgendwann unverhofft kippen. Experten sprechen oftmals von der sogenannten Kochtopf-Metapher: Damit das Wasser nicht überläuft, muss der Regierungsapparat den Deckel hin und wieder einen Spalt weit öffnen. Derzeit jedoch reagiert sie auf die zunehmend brodelnde Bevölkerung vor allem mit Repression und Zensur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was