Corona und häusliche Gewalt: Tipps gegen Aggressionen
Er ist so geladen, aber er will nicht ausrasten. Was tun? Das Bundesforum Männer hat ein „Survival-Kit für Männer unter Druck“ ins Netz gestellt.
Die Szene ist zwar fiktiv, aber sie steht symbolhaft für das, was gerade in nicht wenigen Wohnungen passiert: Familien hocken aufeinander, gehen sich auf die Nerven, viele Eltern müssen trotz der Alltagseinschränkungen arbeiten. Im Homeoffice können die Grenzen von Job, Privatleben und Haushaltsaufgaben schnell verschwimmen, mitunter bis zur Unkenntlichkeit – für Frauen wie Männer. Das stresst und sorgt für Frust, Überlastung, Unzufriedenheit. Und für Aggressionen. Mit denen viele Männer schwerer umgehen können als Frauen, manche rasten daher häufiger aus.
„Da ist einer schon mal kurz vor Rot“, drückt Dag Schölper es aus, Geschäftsführer des Bundesforum Männer, einem Interessenverband für Jungen, Männer und Väter. Das Bundesforum ist das (männliche) Pendant zum Deutschen Frauenrat, einem Dachverband für 59 Frauenorganisationen und -vereine in Deutschland.
Jetzt hat das Bundesforum ein „Survival-Kit für Männer unter Druck“ herausgegeben, eine Art Bedienungsanleitung im Netz gegen Gewalt. Das Survival-Kit richtet sich vor allem an jene, die „voller Aggression sind, aber nicht ausrasten wollen“, sagt Schölper. Denn „in einer Krisensituation steigt das Risiko, die Kontrolle zu verlieren und gewalttätig zu werden“, heißt es im Merkblatt, das man kostenlos herunterladen kann. Derzeit gibt es das Merkblatt in 18 Sprachen, darunter Englisch, Serbokroatisch, Tigrinya, Niederländisch, Italienisch.
Hilfe für Männer, die nicht ausrasten wollen
Das Angebot, das in Zusammenarbeit mit Antigewalt- und gleichstellungsorientierten Männergruppen in der Schweiz und Österreich entstanden ist, ist ein wichtiger Teil der Antigewaltarbeit. In diesen Wochen nehmen häusliche und Partnerschaftsgewalt zu, vor allem durch beengtes und dauerhaftes Zusammensein, insbesondere in kleinen Wohnungen. Mancherorts steigt die Gewaltrate derzeit um 100 Prozent, so wie im Polizeibezirk Essen.
Ausgangsbeschränkungen, geschlossene Schulen und Kitas, Homeoffice, wachsende Arbeits- und damit Perspektivlosigkeit seien der „perfekte Nährboden“ für häusliche Gewalt, hatte Marlène Schiappa, französische Staatssekretärin für Geschlechtergleichstellung, bereits vor den massiven Einschränkungen im öffentlichen Leben in Frankreich gewarnt. Von Partnerschaftsgewalt sind vor allem Frauen betroffen, jede vierte Frau in Deutschland hat mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt vom aktuellen oder Expartner erfahren.
Musik hören und lesen als Tipp
Jetzt wird es für die Opfer noch schwerer als sonst, sich zu wehren und die Gewaltspirale zu verlassen oder zu verringern. Marija Pejcinovic Buric, Generalsekretärin des Europarats, zufolge können Frauen jetzt weder eine Beratungsstelle aufsuchen noch in ein Frauenhaus fliehen. Frauenhäuser und Beratungsstellen in Deutschland haben ihr Angebot der Situation angepasst und leisten jetzt vor allem telefonische Hilfe und sind per Mail ansprechbar, teilten die Bundeskoordinierung der Frauenhäuser und -beratungsstellen mit.
Und wie kann das Survival-Kit unter Druck stehenden Männern helfen? In den zehn von Psychologen und Gewaltexperten entworfenen Ratschlägen heißt es unter anderem: „Höre Musik. Treib Sport. Tausch dich mit Freunden aus.“ Oder: „Achte auf deine Grenzen: Sag Stopp, wenn du dich bedrängt, beengt, genervt fühlst.“ Können solche Tipps tatsächlich Gewalt verhindern? Können sie Frauen schützen und Männer vor kriminellen Handlungen bewahren? „Wir machen uns da nichts vor“, sagt Schölper vom Bundesforum Männer: „Das Angebot richtet sich vor allem an Männer, die sonst nicht gewalttätig, aber mit der aktuellen Situation völlig überfordert sind.“
Männer also, die gewöhnlich Dauerpräsenz im Büro zeigen und mit familiärer Opulenz nicht umgehen können. Die nicht wissen, in welchen Küchenschrank zu Hause die Teller gehören und dass man Jeans nicht zusammen mit weißen Unterhosen in die Waschmaschine schmeißt. Kurz: Die das (für sie neue) Leben zu Hause über Maßen stresst. Schölper sagt: „Männer, die Gewalt als Macht- und Kontrollverhalten definieren und gar nicht darüber nachdenken, dass sie ihrer Partnerin Unrecht tun, wenn sie sie schlagen, erreichen wir vermutlich nicht.“
Das Bundesforum setzt aber darauf, dass das Survivel-Kit – neben den „bewussten Männern“ – auch von Nachbarn oder Mitarbeitenden von Pflegediensten wahrgenommen und empfohlen wird, wenn sie in einem Haushalt Übergriffe vermuten.
Zu wenig Programme für Männer als Täter
Die öffentliche Sensibilität gegenüber häuslicher und Partnerschaftsgewalt hat durchaus zugenommen – und mit ihr die Zahl der Präventionsangebote und Projekte der Arbeit mit Tätern. In der Europäischen Union gibt es rund 200 Täterprogramme, in Deutschland findet man Beratungs- und Anlaufstellen für Gewalttäter vor allem in Großstädten wie Berlin, München, Hamburg, Düsseldorf.
Einige Männer gehen freiwillig zu Antigewalttrainings, das sind die sogenannten „Selbstmelder“, jene, die sich jetzt durch das Survival-Kit angesprochen fühlen könnten. Andere schicken Polizei und Jugendämter, als verpflichtende Auflage, weil sie bereits gewalttätig waren. Verweigern sie das Antigewalttraining, dürfen sie möglicherweise eine Zeitlang ihre Kinder nicht sehen.
Manche dieser Männern rufen bei Gerhard Hafner in der Männerberatungsstelle gegen Gewalt der Volkssolidarität in Berlin an. Und sagen häufig nur einen Satz ins Telefon: „Ich möchte einen Termin.“ Mitunter sei gar nicht sicher, sagt Hafner, ob die Beratungsstelle die richtige Anlaufstelle für ihr Problem sei: „Aber Männer tun sich schwerer damit, am Telefon über sich, ihre Bedürfnisse und Notlagen zu reden.“ Eher strebten sie eine persönliche Beratung an.
Weil das gerade nicht ginge, sei das Survival-Kit „wichtig und sinnvoll“, sagt Hafner. Das Ganze hat aber einen echten Haken: Wem die Ratschläge nicht weiterhelfen, kann keine bundesweite Hotline für Männer anrufen – so wie das Frauen beim Hilfetelefon machen können. Regional bieten die Opferschutzorganisation wie der Weiße Ring Telefonberatung an, andererorts helfen die Kirchen und einige wenige Männerberatungsstellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid