Corona und Schüleraustausch: Auslandsjahr gecancelt
Tausende Austauschschüler*innen müssen früher zurück nach Deutschland. Doch nicht alle wollen jetzt schon nach Hause.
Von dieser Entscheidung sind weltweit rund 10.000 Austauschschüler*innen betroffen, davon mehrere Hundert deutsche Jugendliche. Wie AFS entschied auch die Austauschorganisation YFU, alle laufenden Programme zu beenden und rund 1.000 deutsche Austauschschüler*innen zurückzubringen. EF, einer der größten Dienstleister von Bildungsreisen und Austauschprogrammen, teilte auf Nachfrage der taz mit, seinen Programmteilnehmenden sowie deren Eltern eine Rückkehr nahegelegt zu haben. Der AFS-Austauschschülerin Antonia fällt das schwer: „Ich hatte endlich das Gefühl, richtig angekommen zu sein. Nun muss ich wieder weg“.
AFS International ist eine der weltweit ältesten und größten Austauschorganisationen. Das gemeinnützige Netzwerk agiert mit Ablegern in über 50 Ländern. Die Vereinsarbeit wird global von über 50.000 Ehrenamtlichen und einem Kern von Festangestellten getragen. Zunächst fanden primär Austauschprogramme in und aus den USA statt, ab 1971 hatten Schüler*innen die Möglichkeit, ein Austauschjahr in einem von 17 Ländern zu verbringen, mittlerweile ist dies in rund 50 Ländern möglich. Über 23.000 Jugendliche haben seither in einer Gastfamilie in Deutschland gewohnt und hier ein Schuljahr erlebt, 33.000 deutsche Schüler*innen haben so ein Auslandsaufenthalt verbracht.
Der Verein gründete sich 1914 in Paris, zunächst als Zusammenschluss junger Amerikaner*innen, die während der beiden Weltkriege Sanitätstransporte organisierten – deswegen steht die Abkürzung für American Field Service. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde so ein Schüleraustauschprogramm ins Leben gerufen, mit der Idee von Jugendlichen als kulturellen Vermittler*innen.
Erst Frust, dann Einsehen
Eine von ihnen, die vergangenen September ins Auslandsjahr startete, ist Antonia. Dass ihre Organisation ihren Austausch gecancelt hat, habe sie erst wütend und frustriert gemacht. Mittlerweile kann sie den Schritt der Organisation nachvollziehen. „Selbst, wenn ich hierbleibe, ich kann hier nichts machen. Ich würde nur rumsitzen, könnte meine Freunde nicht treffen“, erzählt sie. Auch ihre Gastschule ist seit einer Woche dicht. An ihren letzten Schultagen mussten sie und ihre Mitschüler*innen vor der ersten Stunde und nach der Mittagspause alle Tische und Stühle desinfizieren.
„Da merkte ich: So kann das nicht mehr lange weitergehen.“ Mittlerweile ist klar: Ihre Gastschule in Drummondville wird für einige Wochen, wenn nicht Monate, geschlossen bleiben. Immerhin hat Antonia nun einen Rückflug bekommen. Parallel dazu läuft die Rückholaktion des Auswärtigen Amtes, mit der bislang 120.000 Deutsche zurückgebracht wurden. Das Glück haben aber nicht alle Austauschschüler*innen.
Denn noch sind längst nicht alle AFS-Programmteilnehmer*innen zurück. Wie viele genau noch auf ihren Rückflug warten, kann AFS nicht beantworten. Die Priorität, lautet die Begründung, liege zunächst darauf, alle Betroffenen „schnellstmöglich wieder nach Hause“ zu bringen. Jedoch stellte der Verein weitere Informationen zum Ablauf online. Die Jugendlichen würden demnach schnellstmöglich auf einen Flug in die Nähe ihres Heimatortes gebucht. Direktflüge würden dabei bevorzugt, um das Infektionsrisiko so gering wie möglich zu halten. Vom Verbleib im Gastland riet AFS mit dem Verweis ab, dass mit dem pandemiebedingten Programmende in den meisten Fällen sowohl die Krankenversicherung als auch das Visum erlösche.
Ben Krepcke kann diese Entscheidung nicht nachvollziehen. Der 16-Jährige ist gerade – noch – in Argos im Norden des Bundesstaats Indiana. Wann und wie er zurück soll, weiß er noch nicht. Dafür weiß er, dass er eigentlich gerne noch in den USA bleiben würde. Nur das ist ohne Schüler*innenvisum nicht möglich. Er ist frustriert, weil die Entscheidung über die Köpfe der Teilnehmer*innen hinweg getroffen wurde. Vor einer Woche schloss seine Schule in Argos, zunächst bis 1. Mai.
Letzter Schultag ohne Abschied
„Es ist komisch, seinen letzten Schultag gehabt zu haben, ohne zu wissen, dass es der letzte war und auch der letzte Tag, an dem man seine Lehrer gesehen hat und manche seiner Freunde.“ Außerdem hat er dieses Schulhalbjahr mit Lacrosse angefangen. Zu einem Spiel kam es nicht, da das erste Turnierwochenende genau in die Woche der Schulschließung fiel. Sowohl er als auch seine Eltern seien mit der Entscheidung von AFS unzufrieden. Ben könne sich schließlich genauso auf seiner Rückreise mit Corona infizieren. Außerdem wollte Ben die zehnte Klasse, die er auch in Argos besuchte, wiederholen. Nun weiß er nicht, in welche Klasse er nun kommt.
Die allgemein schwierige Lage sieht auch Katharina Schilinski in Berlin, die auf die Rückkehr ihres Sohnes Erik wartet, der noch in Panama ist. „Im Endeffekt möchte man doch, dass sein Kind in dieser Zeit bei sich ist.“ Im Gegensatz zu Ben Krepcke kann die Kauffrau die Entscheidung, alle zurückzuholen, nachvollziehen. „Es besteht nämlich die Sorge, dass sie die Jugendlichen sonst erst mal gar nicht mehr aus dem Land bekommen, selbst zum eigentlichen Programmende“, fügt sie an.
Natürlich seien alle traurig, vor allem weil Erik sich in seiner Gastfamilie in Chitré sehr wohlfühlt, erzählt Schilinski. In Panama würden alle 19 deutschen Austauschschüler*innen mit einem Privatbus abgeholt und zum Flughafen in Panama-Stadt gefahren, weil der öffentliche Nahverkehr mittlerweile komplett eingestellt sei. Wann genau Eriks Maschine abfliegen soll, sei noch unklar. Seine Koffer hat Erik schon vor einer Woche gepackt. Warten auf die Rückkehr.
Antonia ist da schon weiter. Sie möchte jetzt in Deutschland jobben und etwas Gutes tun. „In der Zeit zwischen Austauschjahr und Schuljahr wollte ich sowieso im Supermarkt aushelfen und sparen, und gerade wird dort ja händeringend nach Leuten gesucht.“ Nächstes Jahr will sie dann ihre Gastfamilie besuchen. Vorausgesetzt, Corona lässt es zu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen