Corona in Deutschland: Wie schlimm wird der Winter?
Die Infektionszahlen steigen, aber langsamer als anderswo in Europa. Warum? Und was muss passieren, damit es nicht schlechter wird?
Wenn man die Entwicklung der Coronazahlen in Deutschland betrachtet, kann man derzeit zu sehr unterschiedlichen Bewertungen kommen – je nachdem, auf welche Zahlen man sich konzentriert und womit man sie vergleicht.
Denn einerseits sind die Werte, die das Robert-Koch-Institut jeden Tag bekannt gibt, durchaus besorgniserregend: Die Zahl der täglich gemeldeten Corona-Infektionen ist in den letzten zwei Monaten im 7-Tage-Mittel von unter 400 auf über 1.800 gestiegen. Und anders als vielfach behauptet, ist dieser Anstieg nur zum kleineren Teil damit zu erklären, dass mehr Tests durchgeführt und damit auch mehr leichte Fälle erkannt werden.
Im internationalen Vergleich steht Deutschland damit aber weiterhin gut da: In Spanien gibt es, bezogen auf die Bevölkerungszahl, derzeit 12-mal so viele Fälle pro Tag, in Frankreich 8-mal und in Österreich 4-mal so viele.
Noch besser sehen – zumindest auf den ersten Blick – die Zahlen der Corona-Todesfälle und -Intensivpatient*innen aus. Während die Zahl der Infektionen seit 10 Wochen fast permanent ansteigt, blieben die Todesfälle lange auf unverändert niedrigem Niveau von durchschnittlich 3 bis 6 pro Tag – ein Bruchteil der über 200, die im Frühjahr verzeichnet wurden.
Lockdown vermeidbar
Ein genauerer Blick zeigt aber, dass es zuletzt auch hierzulande einen Anstieg gab: So ist die Zahl der täglich im Schnitt gemeldeten Coronatoten innerhalb von einer Woche schlagartig von 5 auf fast 10 angestiegen. Und auch die Zahl der Coronapatient*innen auf Intensivstationen lag in dieser Woche 25 Prozent höher als zwei Wochen zuvor.
Allerdings bleiben die Zahlen damit weiterhin auf einem sehr niedrigen Niveau: Von den über 30.000 Intensivbetten in Deutschland sind aktuell über 300 mit Coronapatient*innen belegt.
Aus Sicht von Uwe Janssens, Chefarzt am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler und Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), ist Deutschland darum gut für den Herbst und Winter gerüstet. „Wenn die Menschen sich an die Regeln halten, dann sollte ein zweiter Lockdown vermeidbar sein und unsere medizinischen Kapazitäten reichen“, sagte er der taz.
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Auch wenn es derzeit nicht zu wenig Intensivbetten gibt – unproblematisch ist die Behandlung keineswegs, berichtet der Intensivmediziner. Denn Covid-19 ist eine langwierige Erkrankung: Durchschnittlich 24 Tage habe die Behandlung eines Patienten auf den Intensivstationen gedauert. „Das ist viel.“ Und noch heute gebe es ein paar wenige Patienten, die im Frühjahr erkrankt seien, aber immer noch intensivmedizinisch therapiert werden müssten. Das Virus befalle nahezu alle Organe, die Lunge jedoch besonders schwer: „Wir sehen gerade bei den Älteren teilweise katastrophale Schäden an der Lunge. Sich davon zu erholen dauert enorm lange.“
Dass die Situation in Deutschland so viel besser ist als in anderen Ländern, liegt aus Sicht von Janssens vor allem an unterschiedlichem Verhalten. „Dieser rasante Anstieg in unseren Nachbarländern hat allein soziologische Gründe“, sagt er. „Das Virus ist dort ja nicht gefährlicher als bei uns.“ Sondern die Menschen verhielten sich vielerorts so, als hätten sie aus dem Frühjahr nichts gelernt. „Für mich ist diese Haltung völlig unverständlich.“
In Deutschland hat Janssens in den vergangenen Monaten dagegen spürbare Veränderungen im Alltagsverhalten insbesondere älterer Menschen beobachtet. „Wir sehen, dass die Älteren inzwischen vorsichtiger agieren und, anders als manche Jüngere, sehr darauf achten, möglichst wenige Risiken einzugehen.“ Ältere Menschen, die noch im Frühjahr, zu Beginn der Pandemie, die Hauptleidtragenden gewesen seien, sich zahlreich infizierten und besonders von den schweren Krankheitsverläufen betroffen waren, hätten aus der Erfahrung gelernt und achteten mittlerweile stärker darauf, größere Menschenansammlungen zu meiden, trügen Masken, befolgten die Hygieneregeln, lobt der Arzt – und gefährdeten sich und andere auf diese Weise weniger als viele Jüngere.
Dieses veränderte Verhalten spiegelt sich in der Altersverteilung der Neuinfizierten wieder: Während die über 80-Jährigen zu Beginn der Epidemie weitaus stärker betroffen waren als der Schnitt der Bevölkerung, gab es in dieser Altersgruppe im Sommer unterdurchschnittlich viele Fälle. Und vom deutlichen Anstieg seit Juli waren die Älteren zunächst gar nicht betroffen. Erst seit drei Wochen steigen die Zahlen auch bei jenen, die über 80 sind, wieder leicht an.
An die Regeln halten
Diese Altersverteilung erklärt auch, warum der Anstieg der Infiziertenzahl sich bisher nur so wenig in der Zahl der Toten und Intensivpatient*innen niederschlägt. „Jüngere Menschen haben weniger Begleiterkrankungen, ihre Organe haben weniger chronische Schäden und sind widerstandsfähiger als die älterer Menschen“, sagt DIVI-Präsident Janssens. In der Intensivmedizin sei das Alter eines Patienten seit jeher mit dem Therapieerfolg verknüpft, und dies gelte auch bei Covid-19: „Je älter die Patienten sind – bei gleicher Grunderkrankung und bei gleicher Schwere der Krankheit –, desto schlechter ist ihre Prognose.“
Doch was muss passieren, damit sich der aktuelle Anstieg nicht fortsetzt und die Situation in Deutschland so vergleichsweise gut bleibt, wie sie ist? Da sind sich die Expert*innen weitgehend einig: Einschränkungen wie im Frühjahr, als Schulen, Kitas und die meisten Geschäfte flächendeckend geschlossen wurden, sind nicht nötig; es würde genügen, wenn Großveranstaltungen verboten bleiben und ansonsten die bestehenden Regeln konsequent eingehalten werden: Abstand halten, regelmäßig Hände waschen, vor allem in geschlossenen Räumen Masken tragen und regelmäßig lüften.
Weitergehende Maßnahmen, die helfen könnten, aber viel Geld kosten würden, plant die Politik bisher nicht. So können Luftfiltersysteme die Luft in geschlossenen Räumen relativ zuverlässig von Aerosolen befreien, in denen sich die Coronaviren verbreiten.
Uwe Janssens, Intensivmediziner
Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina sprach sich in einer neuen Stellungnahme in dieser Woche für den Einsatz solcher Geräte aus; auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach fordert, alle Schulen damit auszustatten, weil diese im Winter nicht ständig gelüftet werden können und permanentes Maskentragen dort nicht umzusetzen ist. Vor den Kosten scheuen die Länder bisher aber zurück.
Auch bessere Masken könnten helfen, die Übertragung von Corona weiter zu verringern. Bisher empfiehlt das Gesundheitsministerium ebenso wie das Robert-Koch-Institut der Bevölkerung, sogenannte Alltagsmasken zu tragen, also wiederverwendbare, nichtmedizinische Stoffbedeckungen für Mund und Nase. Diese sind durchaus hilfreich, bieten aber, je nach Material und Sitz, oft weniger Schutz als medizinische Masken.
Impfstoff und neue Tests
In Tests schneiden einfache medizinische OP-Masken besser ab als viele der weit verbreiteten Stoffmasken. Noch deutlich besser schützen die wesentlich teureren FFP2-Masken. Gerade in geschlossenen Räumen mit vielen Menschen, in denen die Maskenpflicht nicht durchgesetzt wird – etwa in vollen Zügen –, werden diese von immer mehr Menschen eingesetzt, um sich selbst zu schützen.
Noch keine Hilfe bieten werden in diesem Winter die Impfstoffe, an denen zahlreiche Unternehmen und Wissenschaftler*innen weltweit mit Hochdruck arbeiten. Selbst wenn sie Erfolg haben sollten, stünde ein Impfstoff frühestens im nächsten Jahr zur Verfügung.
Schneller gehen könnte der Einsatz neuer Tests, mit denen eine Corona-Infektion unmittelbar nachgewiesen werden könnte statt in einem Labor, was bisher mindestens einen, oft aber mehrere Tage dauert. Dafür plädierte auch die Leopoldina: Es würden „zeitsparende, laborunabhängige und dezentral durchführbare Testverfahren“ gebraucht, die schneller als bisher zwischen einer Sars-CoV-2-Infektion und einer gewöhnlichen Erkältung oder der Grippe unterscheiden könnten.
Antigen-Schnelltests könnten „trotz einer geringeren Spezifität und Sensitivität den Nachweis einer Infektiosität erbringen“. Neben solchen Zukunftsszenarien fordern die Wissenschaftler*innen, zu denen auch der Charité-Virologe Christian Drosten gehört, aber vor allem „bundesweit verbindliche, wirksame und einheitliche Regeln“ und diese „konsequenter als bisher um- und durchzusetzen“.
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