Corona-Regeln für Menschen mit Handicap: Schutz oder Diskriminierung?

Für Menschen mit Behinderungen tun sich die Behörden schwer, das richtige Verhältnis von Schutz und Gleichbehandlung zu finden.

Ein Schild mit einem Regenbogen und dem Slogan "Alles wird gut" ist an einem Wohnheim für Behinderte in Koblenz angebracht.

Harte Zeit der Trennung: Eingangstür eines Wohnheims für Behinderte in Koblenz Anfang April Foto: Thomas Frey/dpa

NEUMÜNSTER taz | Marie (Name geändert) hatte beste Laune. Das machte den Besuch ihres Vaters Fritz Bremer in der schleswig-holsteinischen Wohngruppe für Menschen mit Behinderungen angenehmer, als der erwartet hatte. Denn die ersten Treffen zwischen der mehrfachbehinderten Tochter und ihren Eltern unter Coronabedingungen fanden in einem sterilen Besuchsraum statt, getrennt durch eine Scheibe.

Bremer, der als Sozialpädagoge sein Berufsleben lang mit Menschen mit Behinderung zu tun hatte, empfand diese Regeln als „skurril und lebensweltfern“. Er wandte sich an Landtagsabgeordnete, bat im Kieler Sozialministerium darum, die strengen Regeln zu ändern. Inzwischen gibt es einen neuen Erlass: „Seit Mitte Juni dürften wir nun zu zehnt zu Besuch kommen“, sagt Bremer. „Das finde ich nun wiederum deutlich zu viel.“

Denn die Bewohner*innen der betreuten WG seien durch ihre körperlichen Behinderungen besonders gefährdet, zudem sind bei den meisten die kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt, sodass sie selbst kaum Vorsichtsmaßnahmen ergreifen können. „Wir treffen uns mit Marie draußen auf der Terrasse und tragen Masken“, sagt der Vater. Erst zu streng, nun zu locker: „Wie man’s macht, macht man’s verkehrt.“

Im ganzen Norden tun sich die Behörden schwer damit, das richtige Verhältnis von Schutz und Gleichbehandlung zu finden. In Bremen etwa benennt auch die aktuelle, zehnte „Verordnung zum Schutz vor Neuinfektionen“ Werkstätten oder Wohnhäuser für Menschen mit Behinderungen noch auf einer Stufe mit Pflegeheimen.

Ein Problem ist, dass nicht alle Menschen mit Behinderungen eine Schutzmaske tragen können

Dabei hatte Arne Frankenstein, Landesbehindertenbeauftragter der Hansestadt, bereits vor einigen Wochen den Senat aufgefordert, „den Unterschied zwischen Pflegeheimen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe hinreichend zu berücksichtigen“. Denn gerade junge und körperlich gesunde Behinderte erkranken nicht häufiger als der Rest der Bevölkerung.

Für Dirk Mitzloff, stellvertretender Behindertenbeauftragter in Schleswig-Holstein, kamen daher die starken Einschränkungen zu Beginn des Lockdowns unerwartet: „Am Anfang habe ich noch gesagt, na dann seid ihr ja nicht gemeint, denn die Erlasse sprechen ja von vollstationärem Wohnen, das es in Schleswig-Holstein in der Eingliederungshilfe gar nicht mehr gibt.“ Doch in Coronazei­ten gelten die WGs dann doch wieder als Heime, egal welche Arten von Behinderungen die Bewohner*innen haben.

Ein Problem ist, dass nicht alle Menschen mit Behinderungen eine Schutzmaske tragen können. Zwar gelten Ausnahmeregeln, dennoch komme es zu Diskriminierungen: Personen ohne Maske würden nicht in Busse gelassen, sogar Arztpraxen verweigerten den Einlass, berichtet Mitzloff. Die Idee, Betroffene mit einem Ausweis auszustatten, lehnte das Ministerium mit Hinweis auf die allgemeine Verordnung ab.

Unterschiede gab es auch beim Arbeiten: Werkstätten für Menschen mit Behinderungen wurden zunächst alle geschlossen. „Alle Leute hingen zu Hause, ohne soziale Kontakte – für Leute mit psychischen und Suchtproblemen bedeutete das Vereinsamung und Rückfallgefahr“, sagt Kerstin Scheinert, Sprecherin der Werkstatträte in Schleswig-Holstein. Inzwischen wird wieder gearbeitet, allerdings in Kleingruppen. Dass es besondere Regeln für möglicherweise gefährdete Personengruppen gibt, findet Schreinert „letztlich nicht schlecht“. Die Einrichtungen würden sich Mühe geben, ist ihr Eindruck: „Es ist wichtig, dass man gut auf alle achtgibt.“

Doch wo schlägt Achtgeben in Bevormunden um? Kerrin Stumpf vom Hamburger Verein „Leben mit Behinderung“ sah in „Corona auch eine Chance“, etwa in der Schule: „Durch Homeschooling und digitalen Unterricht sehen Lehrkräfte anders auf die Kinder und merken, was ein Kind mit Behinderung eigentlich kann.“ Dennoch hätten sich viele Eltern geärgert, dass für ihre Kinder besondere Regeln vorgesehen waren: „Es kam die Frage auf, ob die Kinder mit Behinderung nun überhaupt auch wieder zur Schule sollten – allein darüber diskutieren zu müssen, empfanden viele Eltern als empörend.“

Dennoch hofft sie auf Verbesserungen und mehr Individualisierung im Herbst. Für einige Eltern, gerade wenn sie selbst schon älter und die Kinder erwachsen seien, habe der Lockdown mit dem strengen Besuchsverbot auch eine wichtige Erkenntnis gebracht, sagt Stumpf: „Sie haben gemerkt, dass es ihren Kinder gut geht, auch wenn die Eltern nicht regelmäßig kommen. Mir hat jemand gesagt: Nun kann ich auch beruhigt sterben.“

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