Wenn Menschen Tiere brauchen: Kampf um den Assistenzhund
Ohne ihren Hund kann Carina Graf nicht aus dem Haus gehen. Doch der Kreis Nordfriesland weigert sich, seine Behandlung zu bezahlen.
Ace ist im Dienst. Aufmerksam beobachtet der Australien-Shepard-Rüde mit den zweifarbigen Augen jede Bewegung seiner Herrin Carina Graf (Name geändert). Die Warnweste, die er trägt, weist ihn als Assistenzhund aus. Für seine Besitzerin, die eine psychische Behinderung hat, ist er unverzichtbar. Doch im Sommer erkrankte der Hund schwer – die Kosten für die Behandlung belaufen sich auf mehrere Tausend Euro.
Graf, die aufgrund ihrer Behinderung in Rente ist, sieht den Kreis Nordfriesland in der Pflicht zu zahlen, schließlich ist Ace ein Mittel für ihre Teilhabe an der Gesellschaft, ähnlich wie ein Rollstuhl für Menschen mit Gehbehinderung. Doch die Behörde weigert sich. Nun liegt der Fall vor Gericht. Graf hofft auf ein Urteil, das nicht nur ihr, sondern auch anderen helfen könnte.
In einem Tagestreff für Menschen mit psychischen Krankheiten in der nordfriesischen Kleinstadt Bredstedt legt Carina Graf einen Stapel Unterlagen auf den Tisch, während Ace es sich zu ihren Füßen bequem macht. Der Aktenstapel ist dick, seit Jahren befindet sich Graf mit der Eingliederungsstelle des Kreises im Rechtsstreit. Aktuell aber muss sie sich täglich mit dem Thema befassen. Durch Ace’ Krankheit drücken sie hohe Schulden, auch ein Spendenaufruf, den Freund*innen gestartet haben, deckt die Kosten nicht. Die Lage sei extrem belastend, berichtet sie. Dennoch überwiegt die Freude, dass Ace am Leben ist. Als er im Sommer an Krebs erkrankte, „hatte ich die allerschlimmste Angst meines Lebens“, sagt sie und kämpft mit den Tränen. „Er ist meine Familie.“
Früher hatte die heute 36-Jährige einen Partner, leitete ein kleines Unternehmen. Bis im Jahr 2015 Erinnerungen aufbrachen, die sie verdrängt hatte. Von einem Tag zum anderen verwandelte sich die Geschäftsfrau in eine Schwerstkranke, geplagt von Angststörungen und so schweren sozialen Phobien, dass sie sich buchstäblich in einem Schrank verkroch.
Selbstbestimmte Teilhabe
Ihre Beziehung zerbrach, Graf verbrachte „mehr Zeit in Kliniken als zu Hause“. Dass ihr der Umgang mit einem Tier guttun würde, wusste sie: Sie hatte früher schon Hunde gehalten. 2017 kam Ace als Welpe zu ihr. 2019 beschloss sie, ihn zum Assistenzhund auszubilden.
Ein Assistenzhund ist im Behindertengleichstellungsgesetz definiert als „speziell ausgebildeter Hund, der dazu bestimmt ist, einem Menschen die selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen oder behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen“. Die Tiere durchlaufen dazu eine auf eine einzelne Person ausgerichtete Ausbildung, dafür gibt es Vereine und Einzeltrainer*innen. Bei Migräne, Diabetes, Epilepsie, Narkolepsie oder Asthma kann ein ausgebildeter Hund einen drohenden Anfall erkennen. Assistenzhunde begleiten Menschen mit Demenz, Autismus oder anderen psychischen Krankheiten. Genau wie Blindenhunde dürfen sie öffentliche Gebäude, aber auch Läden oder Arztpraxen betreten.
Carina Graf sagt, dass sie ohne Ace nicht in der Lage wäre, das Haus zu verlassen. Einkaufen, andere Menschen treffen, Behördengänge erledigen – nur dank des Hundes schaffe sie das. „Ich weiß, dass ich nach außen kompetent und selbstbewusst wirke“, sagt sie. „Aber ich zahle einen Preis dafür, ich bin nach jedem Termin komplett erschöpft.“ Manchmal hat sie Anfälle, bei denen sie bewusstlos wird. Ace warne sie, sodass sie ein Medikament nehmen könne, berichtet sie.
Als sie im Sommer einen Knubbel unter Ace’ Fell spürte, der sich als Tumor herausstellte, brach für sie die Welt zusammen. Sie machte sich auf die Suche nach einer Hilfe und fand eine Klinik in Süddeutschland, die das Tier behandelte. Komplikationen erschwerten die Therapie, die Kosten stiegen, die die Tierkrankenkasse nur zum Teil übernimmt.
Graf wandte sich an den Kreis Nordfriesland. Der setzt bei der Teilhabe behinderter Menschen auf das sogenannte Sozialraumkonzept, das die Stärken der Betroffenen und ihres Umfelds ins Zentrum stellt – eigentlich ein innovatives und oft auch erfolgreiches Modell.
Doch in Grafs Fall lehnte die Eingliederungsbehörde es bereits ab, sich an den Ausbildungskosten zu beteiligen: Es bestehe „lediglich für den Einsatz von Blindenführhunden ein gesetzlicher Anspruch“, heißt es in einem Schreiben.
Das sei falsch, sagt Dirk Mitzloff, stellvertretender Landesbehindertenbeauftragter in Schleswig-Holstein. Er verweist auf die „Assistenzhundeverordnung“, die das Bundessozialministerium im Dezember 2022 erlassen hat. Dort sind mehrere der Funktionen aufgeführt, die Ace für Carina Graf erfüllt. Wenn eine Diagnose vorliege, das Tier ärztlich verordnet sei und die Anforderungen erfülle, sollte der Antrag bewilligt werden, sagt Mitzloff. Doch stattdessen passiere es häufig, dass Krankenkassen und Eingliederungsbehörde versuchen, sich gegenseitig die Kosten zuzuschieben.
Auch Carina Graf hatte sich zunächst an ihre Krankenkasse gewandt. Die verwies sie an den Kreis. Der muss nach bestimmten Kriterien entscheiden, ob er Anträge bewilligt. Schließlich geht es um Geld, um Steuermittel: Die Kosten für Sozialleistungen steigen von Jahr zu Jahr, daher liegt es im Interesse der Behörde, nicht jeden Antrag zu bewilligen.
Aber wenn ein Mensch nun einmal Hilfe braucht? Und wenn Alternativen noch teurer wären? Hätte Carina Graf ihre vierbeinige Stütze nicht, bräuchte sie vermutlich menschliche Hilfskräfte, die nicht mit Hundefutter und Streicheleinheiten bezahlt werden könnten. „Im Idealfall sollten sich die Kostenträger untereinander einigen und den Menschen mit Behinderung nicht belasten“, sagt Mitzloff. Doch das klappe selten. Auch in Carina Grafs Fall nicht: Der Kreis verwies sie zurück an die Krankenkasse und bezweifelte obendrein, ob sie überhaupt einen Assistenzhund brauche.
Freunde sollen helfen
Zwar ist Selbsthilfe – die Graf ergriff, als sie mit Ace die Ausbildung durchlief – ein Kernelement des Sozialraumgedankens. Doch nach Vorstellung des Kreises sei es doch auch möglich zu schauen, ob „jemand aus dem Umfeld kostenlos oder für wenig Geld einen geeigneten Hund zur Verfügung stellen kann“, erklärt die Pressestelle des Kreises auf taz-Anfrage. Vielleicht ließen sich auch „soziale Kontakte im Lebensumfeld intensivieren oder eine Unterstützung durch Freunde und Nachbarn erfragen“. Und schließlich gebe es auch „öffentliche Begegnungsstätten, die Kontakte ermöglichen“.
Diese Tipps passen nicht zu Grafs Krankheit – ihr Arzt bescheinigt ihr Traumafolgestörungen mit „schweren, komplexen, einander bedingenden“ Symptomen. Sie kann allein eben nicht das Haus verlassen, in der Nachbarschaft an Türen klingeln oder in eine Begegnungsstätte gehen. So steht es auch in einem fachärztlichen Attest, das der taz vorliegt. Den Kreis überzeugt das nicht: „Die Antragstellerin hat nicht glaubwürdig gemacht, wie stark ihre Einschränkungen sind.“ Es bestünden „Diskrepanzen zum Vortrag der Antragstellerin“.
„Wir wären gern bereit, alle Fragen im Gespräch zu klären“, sagt Tatjana Schul, die Graf als Betreuerin zur Seite steht. Doch zurzeit fände die Kommunikation nur schriftlich statt. Inzwischen bezweifelt der Kreis alles: Dass Graf einen Hund braucht, dass es dieser sein müsse, ob die Behandlung notwendig gewesen sei: Hätte es nicht eine Amputation anstelle der OP getan? „In allen Schreiben schwingt die Unterstellung mit, Frau Graf wolle etwas abzocken“, sagt Schul. „Einen solchen Umgang mit Behinderten kann ich als Betreuerin, Juristin und Mensch nicht begreifen.“
Gemeinsam mit dem Sozialverband Deutschland klagte Graf, um Geld für Ace’ Ausbildung zu erhalten. Nun klagt sie zusätzlich um die Kosten der Krebsbehandlung.
Zu wenig Gerichtsurteile
Solche Verfahren können Jahre dauern, aber sie seien wichtig, sagt Dirk Mitzloff. Denn das neue Bundesteilhabegesetz räumt Menschen mit Behinderung zwar mehr Rechte ein, aber weil es zu wenige Gerichtsurteile gibt, können sich Behörden immer noch auf „kenne ich nicht, genehmige ich nicht“ zurückziehen. Bei vielen Verfahren werde den Klagenden irgendwann ein Vergleich angeboten. „Das ist für die Betroffenen gut, weil es das Problem löst, aber so kriegen wir keine Urteile.“
Carina Graf will sich auf keinen Vergleich einlassen. Doch selbst wenn am Ende ein Urteil zu ihren Gunsten fällt, bleibt sie bis dahin auf den Kosten im fünfstelligen Bereich sitzen. Die Eingliederungsbehörde verweist auf die laufende Spendenkampagne. Auf die Frage, ob der Kreis Nordfriesland generell behinderten Menschen dazu rät, im Internet um Spenden zu werben, antwortet der Sprecher leicht beleidigt: „Niemand, der einen berechtigten Anspruch hat, wird auf das Spendensammeln verwiesen.“ Es schwingt mit, dass Graf eben keinen Anspruch hat.
Graf sammelt ihre Unterlagen ein, sie ist müde – es strengt sie an, über ihren Fall zu sprechen. Ace springt auf, als seine Herrin aufsteht: Er ist im Dienst, egal was die Behörde dazu sagt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien