Corona-Lockdowns in China: Exodus der Expats
Lockdowns und die Angst vor der Zwangsquarantäne: Unter europäischen Unternehmen in China kippt die Stimmung.
Dass die Lockdown-Politik der chinesischen Staatsführung wirtschaftlich tiefe Dellen hinterlassen wird, steht außer Frage. Doch das Ausmaß der Krise ist schockierend: Am Mittwoch sorgte das renommierte Wirtschaftsmagazin Caixin mit der Publikation seines Einkaufsmanagerindexes EMI für den Dienstleistungssektor für Schockwellen. Der Indikator zeigt an, wie die Stimmung unter den Unternehmen ist – ein Wert über 50 signalisiert Wachstum, darunter bedeutet Kontraktion. Im März ist der EMI von 50,2 auf ein Rekordtief von 42 eingebrochen.
Jörg Wuttke, Europäische Handelskammer Peking
„Das ist beispiellos“, sagt Jörg Wuttke, Präsident der europäischen Handelskammer in Peking: „Das erste Quartal 2021 ist noch leicht besser im Vergleich zum Jahresbeginn 2020, aber wir sind auf dem Weg dahin.“ Auch die Großbank UBS hat unlängst ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum der Volksrepublik von 5 Prozent auf 4 Prozent herabgestuft – es wäre der niedrigste Wert seit mehreren Jahrzehnten.
Ein schwächelndes China hat jedoch auch global überproportionale Auswirkungen, schließlich werden im Reich der Mitte über ein Viertel des weltweiten Wirtschaftswachstums generiert. „Wenn China Schluckauf hat, bekommen wir alle eine Erkältung“, sagt Wuttke. Doch was die EU-Handelskammer in ihrer jüngsten Bestandsaufnahme berichtet, ist mehr als besorgniserregend: Im nahezu gesamten Gebiet ist die Stimmung sehr bedrückt.
Kein Exitplan
In der nordöstlichen Wirtschaftsmetropole Shenyang etwa gilt seit über zehn Tagen bereits ein flächendeckender Lockdown, auch der internationale Flughafen ist außer Betrieb. Aufgrund der vielen Insolvenzen sei es zudem schwer geworden, überhaupt noch Kredite von den Banken zu erhalten. „Die Konzerne haben akzeptiert, wie es jetzt ist. Doch es gibt eine große Sorge um die Zukunft, weil man keinen Exitplan erkennt: Nach der Coronawelle ist schließlich vor der Coronawelle“, sagt Handelskammervorstand Harald Kumpfert. Doch Chinas Regierung hat sich mehr denn je dazu verpflichtet, an seiner „Null Covid“-Strategie festzuhalten – und auch die wirtschaftlichen Kosten dafür in Kauf zu nehmen.
Egal, ob in Tianjin, Nanjing oder Shenzhen: Die europäischen Unternehmensvertreter haben geradezu abenteuerliche Probleme, die in vielen Teilen der Welt mittlerweile absurd anmuten dürften. Wegen der Ausgangssperren müssen Arbeiter nicht selten wochenlang in den Fabriken hausen. Die Wartezeiten auf Zulieferungen verdoppeln sich, weil sämtliche aus dem Ausland importierten Produkte auf Virusspuren untersucht werden. Und selbst Geschäftsreisen innerhalb des Landes sind derzeit absolut tabu.
Am prekärsten ist die Situation derzeit in Shanghai; einer 26-Millionen-Metropole, die immerhin knapp 4 Prozent des nationalen Bruttoinlandprodukts generiert. „Niemand weiß, wann der Lockdown enden wird. Shanghai ist zu einer Geisterstadt geworden“, sagt Bettina Schön-Behanzin, die die lokale EU-Handelskammer leitet.
Derzeit sind die Geschäftsbilanzen nahezu in den Hintergrund gerückt, denn viele Mitarbeiter haben viel essenziellere Probleme: „Wir haben Berichte von Leuten, die täglich um 4 Uhr morgens aufstehen – in der Hoffnung, um die Uhrzeit an Essenslieferungen zu gelangen“, sagt Schön-Behanzin. Neben der angespannten Nahrungsmittelversorgung grassiert unter vielen Familien die Angst, dass sie im Fall einer Corona-Infektion von ihren Kindern getrennt werden. In der Vergangenheit haben die Behörden Shanghais infizierte Kinder separat in eigenen Covid-Spitälern untergebracht.
Europäisches Vogelnest
All das hat den Exodus der europäischen Expats noch einmal beschleunigt. Allein im Zuge der Pandemie hat sich die ohnehin niedrige Anzahl von Ausländern in China halbiert. Die Handelskammer erwartet, dass im Zuge des Sommers nochmals die Hälfte zurück in den Westen abziehen wird. Nachkommendes Talent ist jedoch immer schwerer zu bekommen: Schuld daran sind vor allem die radikalen Quarantänebestimmungen des Landes.
„Alle Europäer in ganz China würden jetzt schon locker ins Pekinger Nationalstadion passen – und selbst dann würden noch eine Menge Zuschauerreihen frei bleiben“, sagt Kammerpräsident Jörg Wuttke. Die Dimension seiner Aussage sollte man sich einmal bildlich zu Gemüte führen: Das „Vogelnest“-Stadion in der chinesischen Hauptstadt hat knapp 80.000 Sitze, China hingegen eine Gesamtbevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen.
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