Corona-Hotspot Berlin-Mitte: „Das war nicht abzusehen“
Der Bezirk Berlin-Mitte hat bundesweit mit die meisten Corona-Neuinfektionen. Doch es fehle Personal für die Kontaktverfolgung, warnt Amtsarzt Murajda.
taz: Herr Murajda, mit 28,1 Fällen pro 100.000 Einwohner*innen hatte Ihr Stadtbezirk Berlin-Mitte Ende der Woche laut Robert-Koch-Institut das zweithöchste Infektionsgeschehen Deutschlands. War es für Sie absehbar, dass die Zahl so stark steigt?
Lukas Murajda: Mitte war immer der Bezirk mit der höchsten Fallzahl, weil wir sehr aktiv bei der Suche sind. Seit Beginn der Pandemie haben wir dasselbe Motto: finden, isolieren, testen. Das setzen wir sehr konsequent durch. Aber dass Mitte das zweithöchste Infektionsgeschehen in der gesamten Bundesrepublik haben wird, hätte ich vor zwei Wochen nicht absehen können.
Wer sind die Infizierten?
Die Infektionsschwerpunkte haben sich seit dem Anfang der Pandemie gewandelt: Erst waren es die Urlauber aus Skigebieten, dann die Clubszene sowie Heime und medizinische Einrichtungen. Später waren auch breitere Bevölkerungsgruppen betroffen. Jetzt sind es hauptsächlich die Reiserückkehrer: Etwa drei Viertel der Neuinfektionen in den letzten 14 Tagen sind drauf zurückzuführen. Wir haben jetzt besonders viele Menschen, die in Risikogebieten Urlaub machen.
Das hört sich an, als könnten Sie die Fälle dennoch eingrenzen.
Wir tun zumindest unser Bestes, alle Infizierten schnell zu finden und zu isolieren. Dazu gehört eine komplexe Zusammenarbeit mit vielen Institutionen wie anderen Gesundheitsämtern, der Bezirksverwaltung, der Charité oder dem Robert-Koch-Institut. Das ist eine echte Herausforderung, was die Logistik und Kommunikation betrifft. Trotzdem tun alle das Beste, was sie können.
In Mitte haben sich gerade so viele Menschen neu infiziert wie zuletzt im Frühjahr. Hilft die Erfahrung, die man jetzt bereits hat?
Es ist leichter, weil wir eingespielt und erfahren sind. Es ist aber auch schwieriger, weil wir jetzt viel weniger Personal haben als im März und April. Damals bekamen wir viel Unterstützung von anderen Ämtern und Freiwilligen. Jetzt ist das Team viel kleiner, das erschwert die Arbeit. Wir brauchen dringend mehr Personal.
Es war doch absehbar, dass es eine zweite Welle geben wird. Warum fehlt das Personal?
Niemand hat im März gewusst, dass die Krise so lange dauern wird. Und die Ämter können sich nicht ein oder zwei Jahre lang nur mit der Pandemie beschäftigen. Deshalb mussten wir die Menschen zurück in ihre Ämter schicken. Und die Ehrenamtlichen müssen ja auch von etwas leben, die können nicht unbegrenzt bei uns bleiben. Die Verwaltung bemüht sich, Personal aufzustocken, aber das geht nicht so schnell. Leider nicht so schnell, wie wir es brauchen.
Und wenn die Fallzahlen noch eine Weile so bleiben?
Auf der einen Seite ist das tatsächlich ein Wettlauf: Was kommt zuerst? Die große Welle oder das neue Personal? Auf der anderen Seite passen wir uns permanent der Entwicklung an und optimieren. In der jetzigen Form ist es aber nicht möglich, die Fälle zu stemmen, falls diese weiter steigen. Wir rekrutieren gerade all unsere Ressourcen und müssen dafür viel opfern. Dass wir unsere Aufgaben nicht alle wahrnehmen können, fällt uns schwer: Es gibt kaum Einschulungsuntersuchungen, der Zahnärztliche Dienst oder Beratungen werden nicht angeboten. Den Schwangeren bieten wir nur das absolut Notwendige an. Es ist eine dunkle Stunde. Bei der Kontaktnachverfolgung werden wir auf das Individuelle verzichten müssen.
Aber ist das Individuelle, wie Sie sagen, nicht unabdingbar bei der Kontaktverfolgung?
Wenn sich ein Schulkind infiziert hat, haben wir bisher zu jedem in der Klasse Kontakt aufgenommen. Wir besprechen die Situation, fahren zu den Personen nach Hause und betreuen unsere Klienten. Wenn wir das weiter reduzieren müssen, könnte es sein, dass wir eine komplette Klasse automatisch in Quarantäne stecken. Wir werden pauschal entscheiden müssen. Anders lässt sich das dann leider nicht lösen. Letztendlich sind wir aber angewiesen auf die Hilfe von allen Berlinerinnen und Berlinern. Wir können es nur gemeinsam schaffen.
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