Corona-Diskurse: Empörungsschaum reicht nicht
Es geht nicht darum zu klären, wer oder was „menschenverachtend“ ist. Sondern: Wie gehen wir die nächste Phase der Coronakrise konkret an?
O b politische Maßnahmen in der Coronakrise gegen die Menschenwürde verstoßen, muss im konkreten Fall diskutiert und geprüft werden, das ist klar. Was wir aber überhaupt nicht brauchen, ist die übliche theoretisch-philosophische Grundsatzdiskussion zur Produktion von Empörungsschaum. Die große Frage lautet: Wie kriegen wir das konkret und praktisch hin, wenn wir von einem langen Zeitraum ausgehen müssen, bis zumindest Medikamente gegen das Coronavirus zur Verfügung stehen?
Die üblichen publizistischen Verdächtigen haben – wie zur Klimakrise – auch hier wenig Substanzielles beizutragen. Offenbar, weil auch dieses Problem sich mit ihren eingeübten Gut-Böse-Theorie-Achsen nicht oder ungenügend vermessen lässt. Klar, kann man insistieren, dass die „Linke“, der „Neoliberalismus“, der Mann oder gar der Kapitalismus das Problem ist. Aber das hilft bei der Problemlösung echt nicht weiter. Das gilt auch für allgemeine Freiheitsgefährdungs- und Menschenwürdebeschwörungen.
Die Bundesregierung von Angela Merkel (CDU) hat, von einer klaren demokratischen Mehrheit gestützt, bisher eindeutig die Gesundheit der Leute priorisiert, sie hat – was Linke und Wirtschaftsliberale gleichermaßen irritiert – nicht die Kapitalinteressen nach vorn gestellt, sie hat in großem Ausmaß superschnell sozialstaatliche Nothilfe rausgedonnert, damit Arbeit und Lebensgrundlage erst mal erhalten bleiben. Und das bundesrepublikanische Gesundheitssystem ist im Vergleich offenbar sehr funktionsfähig. Das ist nicht nichts.
Unsere Ausgangslage ist gleichzeitig schwieriger, als viele denken – und besser. Schwieriger, weil die Scheiße jetzt erst richtig losgeht. Und besser, weil unsere Grundbedingungen ordentlich sind, um etwas hinzukriegen. Was jetzt wirklich nicht hilft, ist ein zielloses Irgendwie-reichts-jetzt-Gefühl eines konzentrationsschwachen Teils der Mediengesellschaft, der aus schlechter Gewohnheit immer lauter rumnölt.
Sich der Komplexität stellen
Besser ist, sich der Komplexität einer Problemlösung zu stellen, für die es keine Theorie und keine Ideologie gibt. Diese besteht beim jetzigen Kenntnisstand in dem Versuch einer Ausbalancierung zwischen massivem Schutz des Lebens der Covid-19-Risikogruppen und Verhinderung anderer schlimmer Verwerfungen. Diese Ausbalancierung ist ein politischer und diskursiver Prozess, in dem man das Gelernte anwenden, Neues auf die harte Tour lernen und dementsprechend permanent zum Nachjustieren bereit sein muss. Als Regierung, als Unternehmen und auch als Bürger.
Dafür muss der große deutsche Konsens, der von Habeck bis Söder reicht, in eine produktive Diskussion überführt werden, in der es nicht um Prinzipien oder Pipifax geht, sondern um drängende praktische Fragen wie Schulöffnungstermine. Und daneben schon auch um große Fragen der bundesrepublikanischen Zukunft, aber eben politisch-praktische: Welche finanziellen Instrumente halten die EU wirklich zusammen? Wie sieht eine europäische Gesundheitspolitik aus?
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Einen sozialökologischen und europäischen Umbau voranzubringen, ist jetzt die Verpflichtung von grünen Ministerpräsidenten und Vizeministerpräsidenten in Verantwortung.
Aber klar: Die Sehnsucht besteht im Moment nicht in einer „anderen Welt“, sondern darin, die alte Welt zurückzubekommen, also die Welt vor Corona. Das ist die deutsche Welt, die für die einen unterging, wenn Kinder freitags nicht in die Schule gingen. Und für die anderen, weil ein FDP-Politiker durch einen Bauerntrick von Rechtspopulisten zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.
Vielleicht fängt das Neue genau in diesem Moment an, in dem man denkt: Also, das kann’s doch auch nicht sein.
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