Coming-of-Age im Plattenbau: Der Himmel über Klein Krebslow
Björn Stephan entdeckt die Schönheit im Plattenbau. Sein Debütroman erzählt von Jugendlichen in der Nachwendezeit.
Saschas Plattenbausiedlung ist eine Endstation: für die Straßenbahn und für viele, die dort zu DDR-Zeiten in der Hoffnung auf eine gute Wohngegend mit „Konsum“-Markt und Poliklinik hingezogen sind. Im Jahr 1994, in dem Björn Stephans Roman „Nur vom Weltraum ist die Erde blau“ hauptsächlich spielt, fühlt sich das Leben zwischen den Betonblöcken längst bleiern an. Saschas Eltern träumen vom Leben in einem Reihenhausviertel, er träumt von seiner mutigen, ruppigen Mitschülerin Juri. Die heißt eigentlich Jenni, kennt sich verblüffend gut mit dem Weltraum aus und verehrt, na klar, Juri Gagarin.
Wie sein jugendliches Duo Sascha und Juri ist auch der Journalist Björn Stephan noch zu DDR-Zeiten geboren, 1987 nämlich. Heute lebt er als Reporter in München und arbeitet für die Zeit und das Magazin der Süddeutschen Zeitung, aufgewachsen ist er in Schwerin. Sein Debütroman „Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau“ erzählt die Geschichte des 13-jährigen Sascha Labude, der in den frühen Neunzigern in der fiktiven Stadt Klein Krebslow aufwächst.
Als Kind der Nachwendejahre weiß Stephan, welche Codes und Details es braucht, um ein präzises Bild der Zeit zu entwerfen: Man raucht Karo oder F6, Saschas Familie isst Jägerschnitzel (panierte Jagdwurst, kein Schnitzel mit Pilzen!); sein bester Freund nennt ihn „Du Kunde“, sein Vater ihn „Mein Schöner“. Die vermeintliche Tristesse der „Platte“ guckt sich Stephan durch die Nostalgie- und Jugendliebe-Linse an, wobei er immer wieder findet, was manche erstaunen dürfte: Schönheit, Lebendigkeit und Trost.
Damit das Ganze aber mehr ist als ein Panoptikum der Post-DDR-Alltagskultur, lässt Björn Stephan sein Romanpersonal die damalige Mentalität erklären. Da wäre der Vater, der sich im Zuge des Umbruchs in die innere Emigration verabschiedet hat. Der engagierte Ex-Montagsdemo-Lehrer. Die alte Denunziantin, die ihre Siedlung vom Fenstersims aus noch immer fest im Blick hat.
Eine unerwartete Figur hingegen ist Saschas kapriziöser Freund Sonny. In anderen Jugendromanen würde der Elton-John-Fan wahrscheinlich schüchtern dem Ausbruch in die Großstadt entgegenträumen, hier aber ist ein liebenswerter Großkotz, der – wie es Sascha wohl formulieren würde – als hellster Stern über der Plattensiedlung strahlt.
Rechtsextreme Gewalt
Wobei man beim ersten Problem des Romans wäre: Die Weltraum-Thematik und -Metaphorik, die Stephan ausgiebig nutzt, und die damit verbundenen Sinnfragen fühlen sich nach Jahrzehnten des Sterneguckens in Jugendfilmen und -romanen ordentlich abgenutzt an. Schwieriger aber als die Bildsprache des Romans ist der Umgang mit der entfesselten rechtsextremen Gewalt der 90er.
Stephan lässt die Nazi-Tyrannei der Nachwendezeit in Gestalt der dumpfen, brutalen Brüder Danilo und Enrico Pawelke aufmarschieren. Auch nachdem die beiden ihren iranischstämmigen Nachbarn Herrn Reza verprügelt haben, will sie aus Realitätsverweigerung oder Furcht niemand in der Siedlung (außer Juri) zu laut als Nazis bezeichnen.
Besagter Herr Reza wird – sicher mit besten Intentionen, aber leider doch: ärgerlich holzschnittartig – als Intellektueller mit Charles-Aznavour-Charisma gezeichnet, als gütige Sphinx aus einem fernen, fernen Land, die Sascha und Juri ihre Lektionen über den Umgang mit Unrecht am liebsten in Aphorismen erteilt. Nichts sei, wie es scheint; alles hänge von der Perspektive ab, aus der man aufs Leben blickt.
Eine gelähmte Gesellschaft
Unklar bleibt aber, warum solche orakeligen Binsenweisheiten nötig sind, um zu einem so schlichten wie richtigen Schluss zu kommen: Faschisten schlägt man nicht, indem man mit Menschen zweifelhafter Gesinnung paktiert – sondern am besten, indem man ihnen nicht mal den berühmten Fußbreit an Einfluss zugesteht.
Wie aber antifaschistische Einzelpersonen (zum Beispiel zwei Teenager) gegen die rechte Übermacht (zum Beispiel zwei einflussreiche Neonazi-Kader mit Butterfly-Messer) in einer von Kleinmut und Apathie gelähmten Gesellschaft ankommen sollen, wird kaum problematisiert. Stattdessen geht der Schrecken des Naziterrors in der Siedlung in einem reinigenden Inferno auf.
Man kommt also zu einem (halbwegs) versöhnlichen Schluss für eine insgesamt liebevoll komponierte Coming-of-Age-Geschichte, nicht aber zu neuen Einsichten über die 90er in den „neuen Bundesländern“. Darüber allerdings: zur Feststellung, dass die Nachwendejahre im Osten – nach Romanen wie Clemens Meyers „Als wir träumten“, nach Christian Bangels „Oder Florida“, Manja Präkels’ „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ oder zuletzt Olivia Wenzels „1000 Serpentinen Angst“ – längst kein weißer Fleck mehr auf der Literaturlandkarte ist.
Was ja, im Kontext aktueller Debatten über Repräsentation, nicht die schlechteste Erkenntnis ist.
Leser*innenkommentare
Ringelnatz1
...ein liebenswerter Großkotz, der – wie es Sascha wohl formulieren würde – als hellster Stern über der Plattensiedlung strahlt....
Schöner Satz!!
..Schmunzelte sie mich an oder schmunzelte sie mich aus..
Björn Stephan - Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau
www.youtube.com/watch?v=3aEXqSNpInA
Eigentlich beruhigend.
panta rhei
mowgli
Zitat: „Man kommt also […] nicht […] zu neuen Einsichten über die 90er in den „neuen Bundesländern“.
Tja. Verpasst ist halt verpasst. Eigenes Erleben ist durch den Konsum von „Coming-of-Age-Geschichten“ nicht zu ersetzen. Und selbst wenn das anders wäre - wer mit einer derartigen Erwartungshaltung auf die Leute zugeht, kann eigentlich nur total enttäuscht werden.
Würde mich mal interessieren, wie Julia Lorenz auf die Idee kommt zu erwarten, im Osten Sozialisierte müssten zwingend das gleiche Bedürfnis haben, anderen mit Gewalt die Welt zu erklären, wie manch ein im Westen Aufgewachsener. Sie sollte bei Gelegenheit vielleicht mal ein Buch darüber schreiben.
Die Bringschuld, die ein Schriftsteller angeblich hat der Gesellschaft gegenüber, ist im Vorwende-Osten zwar ausgiebig thematisiert worden, sie ist aber nichts, was man hier und jetzt unbedingt haben muss, wenn sie einem damals und dort gestunken hat. Vor allem dann nicht, wenn die Beteitschaft der zu Belehrenden, anderes wahrzunehmen als die eigenen Erwartungen und Klischees, derart deutlich zu erkennen sind.
Der Osten nach 1990 war, wie er nun einmal war. Denen, die sich so durchgewurstelt haben in einer Zeit des Umbruchs und der Ahnungslosigkeit, weltrettende Erkenntnisse für heute oder eine Erklärung dafür abzuverlangen, wie alles kam, ist jedenfalls ziemlich borniert. Borniert und dumm. Hinterher schon vorher alles besser gewusst zu haben, ist schließlich nichts, was einen guten Schriftsteller auszeichnet, finde ich - oder auch nur einen sympathischen Menschen.