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Clubszene in der UkraineEin Grollen, ein Brodeln

Das Berliner CTM-Festival widmet der ukrainischen Club- und Elektronikszene einen Abend. Dort geht es um den Kriegsalltag zwischen Heimatland und Exil.

Nazanin Noori mit ihrem Set beim CTM Festival in Berlin, Visuals von Diana Azzuz im Hintergrund Foto: Roland Owsnitzki

Die Nacht auf dem Dancefloor durchtanzen, um am nächsten Morgen in einer neuen Kriegsrealität zu erwachen: So erging es vielen Ak­teu­r:in­nen der elektronischen Musikszene in der Ukraine am 24. Februar 2022. Der hipste Club des Landes, das „∄“ (oder „K41“) in Kyjiw, richtete einen Spendenfonds für humanitäre und militärische Güter ein, die Mit­ar­bei­te­r:in­nen gingen zur Armee oder ins Exil, viele von ihnen nach Berlin.

Das an den Club angegliederte Label Standard Deviation veröffentlichte Kompilationen in Kooperation mit internationalen Star-Acts wie DJ Stingray und Wolfgang Tillmans, um Geld zu sammeln (zuletzt „From Ukrai­ne, For Ukraine“ im Dezember 2022). Andere schlossen sich den ukrainischen Streitkräften an, etwa der DJ und Produzent Panghoud (Mark Panghoud) aus Charkiw. Zwischendurch komponiert er in den Kriegswirren tatsächlich noch elektronische Tracks.

Im Berliner Hebbel am Ufer 2 (HAU 2) wird am Dienstagabend im Rahmen des Avantgarde-Festivals CTM die Videoserie „Рідне“ („Ridne“) gezeigt, in der Mu­si­ke­r:in­nen den Kriegsalltag dokumentieren. Auch Mark Panghoud steuert ein Video bei, in dem er Straßenszenen aus Charkiw am 322. Tag des Krieges aufnimmt. Unscharfe Bilder von Menschen an einer U-Bahn-Station sind zu sehen, ein Akkordeonspieler, ein Weihnachtsmarkt.

Auf der Tonspur hört man computerbasierte Drums, die wie Maschinengewehrsalven klingen, einen lauten, brodelnden Bass, der sich anhört, als explodiere etwas. Den Soundtrack hat Panghoud selbst eingespielt, via Untertitel erfährt man: „Am 27. Februar 2022 schloss ich mich den Streitkräften an. In den vergangenen elf Monaten war ich ganze 40 Stunden in Charkiw. […] Ich vermisse meine Stadt.“

Rauheit des Schwarzen Meeres bei Odessa

Die Videoserie ist nach dem ukrainischen Wort für „einheimisch“ („Рідне“, „Ridne“) benannt. Weitere bekannte Pro­du­zen­t:in­nen der ukrainischen Szene filmen darin Alltagsszenen während des Kriegs: Die Kyjiwer Künstlerin Diana Azzuz zeigt Bilder aus Hrebenne von der polnisch-ukrainischen Grenze, die zu einem Wartezimmer für Flüchtende geworden ist, Undo Despot aus Odessa fängt die Schönheit und Rauheit des Schwarzen Meers in ihrer Heimatstadt filmisch ein. Bei den Aufnahmen des Künstlers mit dem Namen bsw sind die verlassenen Straßen und zerstörten Gebäude von Mykolajiw zu sehen, und DJ und Produzent tofudj dokumentiert Straßenszenen am Stadtrand von Kyjiw.

Die elektronischen Szenen Berlins und Kyjiws sind eng verwoben, auch wegen der persönlichen Verbindungen ist der Krieg in der Ukraine dem CTM Festival ein besonderes Anliegen. Mitkuratiert wurde der Ukraine-Abend von Mariana Berezovska, Gründerin des Borshch-Magazins für elektronische Musik, beteiligt ist auch das Label Standard Deviation. Partnerorganisation ist das Goethe-Institut im Exil.

Der Abend vermittelt sehr gut, wie die ukrainischen Künst­le­r:in­nen zwischen den Welten wandeln, zwischen Heimatland und Exil, zwischen Angst und Alltagsroutine, in permanenter Gefahr schwebend. Im „Ridne“-Videoprogramm ist vielleicht das Video von Undo Despot am eindrücklichsten: Sie zeigt schlicht das stürmische Meer in Odessa, Wellen schlagen auf Felsen und hinterlassen Schaumränder am gottverlassenen Strand, man sieht nur Möwen, eine verwaiste Aussichtsplattform. Verlassen wirken die meisten Landstriche, die in den Filmen vorkommen; es ist ein von Angst dominierter, ein deprimierender Alltag, der die Menschen verkümmern lässt.

Diese Gefühle in Sounds zu übersetzen, bleibt Katarina Gryvul im zweiten, audiovisuellen Teil des Abends überlassen, der nach einem Gedicht der ukrainischen Lyrikerin Lina Kostenko („Рибачка“, „Die Frau des Fischers“) benannt ist und sich um den Zustand des Wartens, des Verharrens, des Vor-sich-hin-Existierens dreht. Gryvul gehört zu den bekannteren Figuren der Musikszene der Ukraine, sie ist Geigerin und Komponistin, stammt aus Lwiw und lebt in Graz. Auf der Bühne im HAU2 ist sie zunächst kaum zu erkennen, alles ist dunkel, man sieht ihre Silhouette hinter einem Laptop und ein paar Gerätschaften.

Ihr Set beginnt mit einem Hyperventilieren, Gryvul hechelt, singt schrille Geräusche ins Mikrofon, rote Lichter blinken, man hört ein Grollen, ein Donnern, ein Brodeln. In dem Stück verarbeitet sie eigene Panikattacken, unter denen sie seit Beginn des russischen Angriffskriegs leidet, das Video dazu zeigt abstrakte, kosmische Bilder in Schwarz-Weiß. Im zweiten Teil ihres Sets geht Gryvul dann zu tanzbarer Musik und zu harmonischen (Opern-)Gesängen über, da ist der Bruch zu groß, das Ganze wirkt wenig einheitlich.

Wunden fressen sich in Gesichtshaut

Den Abschluss machen die syrisch-ukrainische Künstlerin Diana Azzuz und die iranische Nazanin Noori mit einem Set, das zu den beeindruckendsten Arbeiten des Abends zählt. Im Breitwandformat sind Makroaufnahmen menschlicher Augen zu sehen, sie wechseln sich ab mit ineinander fließenden Collagen, dazwischen werden menschliche Körper alienmäßig verfremdet, Wunden fressen sich in Gesichtshaut.

Mindestens so gewaltig wie die Bilder kommen auch die Töne Nazanin Nooris rüber: dunkle, wummernde Industrial-Beats hallen durch das HAU 2, Sirenen- und Alarmgeräusche mischen sich dazwischen. Wie sich der Krieg anfühlt, wie er einem den Boden unter den Füßen wegzieht, das kann man drei Stunden lang nacherleben – mit dem Privileg, diese Zustände bloß künstlerisch vermittelt zu bekommen.

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