Chronisch kranke Kinder: Kaum Unterstützung

Chronische Krankheiten bei Kindern belasten die ganze Familie. Auch in Kita und Schule gibt es meist keine Betreuung. Eltern werden alleingelassen.

Bei einem Jungen wird mit einem Glucosesensor der Blutzucker kontrolliert.

Eine Kranken­schwester kontrolliert den Blut­zuckerwert eines Schülers Foto: Alexandra Daley-Clark/NYT/redux/laif

MÜNCHEN taz | Leo darf nicht mit auf Schulausflüge. Er hat Asthma, und der Lehrer fürchtet Notfallsituationen. Mila bekommt beim Mittagessen in der Kita fast immer etwas anderes als die anderen Kinder. Wegen ihrer Nahrungsmittelallergien darf sie weder Weizen noch Milch oder Nüsse, also oft auch keinen Kuchen essen. Max wurde die Aufnahme in die Regelschule verweigert, da er an Typ-1-Diabetes leidet.

Chronische Krankheiten bei Kindern sind per se schon eine Bürde – egal ob Diabetes Typ 1, Unverträglichkeiten wie Zöliakie, Neurodermitis oder Asthma. Sie verlangen den Kindern früh Disziplin und Selbstständigkeit ab, dazu kommt die Sorge um die Gesundheit. Ein Diabetes Typ 1 oder eine Zöliakie sind beispielsweise nicht heilbar. Rund 10 bis 15 Prozent der Kinder in Deutschland sind von einer chronischen Krankheit betroffen – Tendenz steigend. Zu dieser Bürde kommen weitere Belastungen: Hänseleien und Benachteiligungen in Schule und Kita.

Auf diese Benachteiligung im Fall von Typ-1-Diabetes wiesen kürzlich drei Fachgesellschaften hin. Teilweise lehnen Regelschulen Kinder mit Diabetes ab, sie werden auf die Förderschule gedrängt. Dabei ist klar: „Die Kinder haben ein Recht auf angemessene Schulbildung und Inklusion“, sagt Klemens Raile, Kinderarzt an der Charité in Berlin. Auch von anderen sozialen Aktivitäten werden sie teilweise ausgeschlossen: Eine Studie hat beispielsweise 2019 ergeben, dass 15 Prozent der diabeteskranken Kita-Kinder und 24 Prozent der Schulkinder nicht an Klassenfahrten teilnehmen durften.

Rund 32.000 Kinder und Jugendliche sind in Deutschland von Typ-1-Diabetes betroffen. Dabei bildet die Bauchspeicheldrüse nicht genügend Insulin. Zwar haben die Kinder einen Behindertenstatus, sie sind jedoch körperlich, geistig und sozial genauso belastbar wie gesunde Kinder.

Unterstützung notwendig

Die meisten diabeteskranken Kinder tragen heute Glukosensoren, die regelmäßig den Blutzucker kontrollieren und bei zu hohen oder zu niedrigen Werten Alarm schlagen. Nur wenige müssen noch mit einem Tropfen Blut aus der Fingerkuppe aktiv ihren Zuckerwert messen. Bei zu hohen oder zu niedrigen Werten müssen sie reagieren. Sind die Kinder unterzuckert, äußert sich das in Zittern oder Schweißausbrüchen. Wird dann nicht schnell Zucker zugeführt, kann es auch zu einer Ohnmacht kommen.

Bei zu hohen Werten hingegen muss der Körper mit Insulin versorgt werden. Das Hormon schaufelt die Zuckermoleküle aus den Blutbahnen in die Organe. Rund die Hälfte der Kinder hat mittlerweile eine Insulinpumpe, die automatisch Insulin ins Blut abgibt. Die andere Hälfte muss sich mittels eines Pens das Insulin in die Bachfalte spritzen. „Auch wenn ein Teil der Kinder heute schon weitgehend automatisch versorgt wird, braucht es noch die Unterstützung der Lehrer und Erzieher“, sagt Klemens Raile.

So müssen Lehrer etwa die Kinder auch während des Unterrichts ihren Blutzucker messen und jederzeit essen und trinken lassen. Denn: Ist der Zucker langfristig immer wieder schlecht eingestellt, belastet das die kognitiven Leistungen wie auch die Gefäße. Wenn Blutglukosewerte über viele Jahre ständig stark schwanken, können im Erwachsenenalter Nieren- und Augenschäden drohen.

Allerdings scheint es eine Betreuung nicht flächendeckend zu geben. Die Diabetesorganisationen fordern darum bundesweit geltende gesetzliche Regelungen. Etwa dass Kita-Betreuerinnen oder Lehrkräfte besser geschult werden und die Kostenübernahme dafür einheitlich werde. Gleichzeitig sollten sich Betreuer in Kita und Schule um einen normalen Umgang mit chronisch Kranken bemühen. „Lehrer sollten informiert sein, aber unaufgeregt mit den Kindern umgehen“, so Raile. Denn die Kinder haben wegen ihres Status als Sonderlinge schon genug Probleme.

Chronisch kranke Kinder werden etwa von Gleichaltrigen häufiger gemobbt. Dies zeigen diverse Studien. In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2018 fand man in 86 Prozent der Studien Berichte von Bullying bei diabeteskranken Kindern. Rund ein Viertel der Kinder, die unter Nahrungsmittelallergien leiden, berichten von Schikanen. Vor allem durch Mitschüler, teilweise auch durch Lehrer.

Chronisch kranke Kinder und Jugendliche erhalten zudem teils deutlich schlechtere Schulnoten als ihre „gesunden“ Altersgenossen. Und dies hinterlässt Wunden in der Kinderseele: Bis zur Hälfte der Kinder mit Typ-1-­Diabetes entwickeln Depressionen, Angst oder andere psychische Probleme. Aber auch somatische Störungen wie Magen- und Kopfschmerzen finden sich bei diabeteskranken Kindern häufiger. Es können sich in der Folge auch Essstörungen entwickeln.

Psychische Probleme kommen fast zwangsläufig

Bei bestimmten Nahrungsmittelallergien, etwa bei der Erdnussallergie, sind die Ängste sogar noch stärker ausgebildet als bei der Zuckerkrankheit. Denn im schlimmsten Fall kann es zu einem anaphylaktischen Schock kommen, der auch tödlich verlaufen kann. Die Kinder entwickeln dann Angst vor der Selbstständigkeit, weil diese gefährlich werden kann. „Das kann so weit gehen, dass diese Kinder Angst haben, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, in den Urlaub zu fahren oder auf Partys zu gehen“, sagt Lars Lange, Allergologe am Marienhospital in Bonn. „Teilweise fühlen sich Nah­rungs­mittel­allergiker durch ‚ihr‘ Allergen regelrecht verfolgt.“ Die Lebensqualität von chronisch kranken Kindern leidet erheblich.

Und das betrifft die ganze Familie, vor allem die Eltern. „Die psychische Belastung bei Diagnosestellung ist bei Diabetes sogar stärker ausgeprägt als bei einer Tumordiagnose“, sagt Raile. Vermutlich weil eine kontinuierliche Betreuung der Kinder vonnöten ist. „Die Eltern schlafen oft Nächte nicht, weil sie immer wieder Blutwerte aus Angst vor Unterzuckerungen überwachen“, berichtet der Berliner Kinderdiabetologe Raile. Eltern haben auch häufig Arbeitsausfälle, vor allem Mütter.

Zudem werden sie etwa im Fall von Lebensmittelallergien von der Umwelt teilweise nicht ernst genommen. Denn viele Eltern von gesunden Kindern setzen diese ohne Diagnose auf Diät – der Nachwuchs darf keinen Weizen oder keine Milch mehr verzehren, ohne Not. In Kindergärten oder im Hort wird darum auf solche Möchtegern-Unverträglichkeiten, die die Abläufe erschweren, oft keine Rücksicht mehr genommen.

Im Falle des Typ-1-Diabetes wird den Familien obendrein eine Schuld an der Erkrankung zugeschrieben. Denn viele verwechseln den Jugend- mit dem Altersdiabetes und glauben, die kranken Kinder seien durch Fast Food oder Bewegungsmangel krank geworden. Dabei ist der Typ-1-Diabetes vor allem eine genetische Erkrankung. „Die Autoimmunerkrankung tritt unverschuldet, ohne eigenes Zutun und unabhängig vom Lebensstil und der Erziehung auf“, stellte kürzlich Andreas Neu vom Uniklinikum Tübingen klar. Er appellierte an Ärzte, den betroffenen Familien entsprechend den Rücken zu stärken.

Laut Raile gewährleisten sogenannte Diabetes-Teams auch psychologische Unterstützung. „Aber die Familie muss aus sich heraus viel leisten, ein gutes Selbstmanagement ist nötig, Ärzte können hier nur unterstützen“, so Raile. Darum ist es wichtig, auch Freunde und Verwandte einzuspannen oder sich in Selbsthilfegruppen auszutauschen. „Ein gutes soziales Netzwerk erhöht die Lebensqualität“, so Lange.

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