Inklusion in der Bildung: „Praktisch zum Stillstand gekommen“
Seit 2006 gilt in Deutschland das Recht auf inklusive Bildung. Doch viele Länder haben ihre traditionell exklusiven Schulsysteme nicht umgestellt.
Rackles war von 2011 bis 2019 selbst an entscheidender Stelle in politischer Verantwortung. Mittlerweile ist er freiberuflicher Strategieberater. Seine Untersuchung basierend auf Daten, die er für die Bertelsmann-Stiftung und die Deutsche Schulakademie erhoben hat, zeigt, dass Deutschland in puncto Inklusion ein geteiltes Land ist.
Die drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen sowie die Länder Schleswig-Holstein und Thüringen gelten als Vorreiter. Hier sinkt der Anteil der Kinder mit Förderbedarf, die gesondert unterrichtet werden, jedes Kind hat das Recht auf den Besuch einer Regelschule und es gibt flächendeckende Unterstützungs- und Beratungssysteme.
Woanders stagniert die Exklusionsquote oder steigt sogar an. Als besonders problematisch nennt Rackles die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Sachsen-Anhalt.
Anzahl der Sonderschulen unverändert
Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK, bekannte sich Deutschland 2006 formal zum Recht auf inklusive Bildung. Die Schulgesetze aller 16 Länder beziehen sich auch alle auf die UN-BRK. Doch viele Länder krempeln ihre traditionell exklusiven Schulsysteme nicht inklusiv um.
So hat etwa Baden-Württemberg eine der bundesweit höchsten Exklusionsquoten und eine der niedrigsten Inklusionsquoten: Anteilig an allen Schüler:innen lernen 5,2 Prozent der Schüler:innen mit Förderbedarf an Sonderschulen und 2,9 Prozent an Regelschulen. Die Anzahl der Sonderschulen ist seit 20 Jahren unverändert, der Anteil der Kinder, die direkt dort eingeschult werden, ist bundesweit mit am höchsten. Das gilt auch für den Anteil der Förderschüler:innen, die die Schule ohne regulären Schulabschluss verlassen.
Zwar habe das Sozialministerium 2015 einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-BRK vorgelegt, heißt es in der Untersuchung, doch ein nachhaltiger und systematischer Transformationsprozess hin zu einem inklusiven Schulsystem sei nicht erkennbar. In Baden-Württemberg gebe es keinen Vorrang für den gemeinsamen Unterricht und keinen Rechtsanspruch für betroffene Kinder und Eltern.
Dass es anders gehen kann, zeigt das vergleichsweise bettelarme Bremen. Die Exklusionsquote von 0,8 ist bundesweit am niedrigsten, kaum ein Kind wird an einer Förderschule eingeschult. Bremen räumt dem gemeinsamen Unterricht im Schulgesetz Vorrang ein, es gibt einen Rechtsanspruch für alle Schüler:innen auf Zugang zu einer allgemeinbildenden Schule, und zwar ohne Ressourcenvorbehalt.
Gezielte Abwehrstrategien
Dieser Verweis auf fehlende Lehrkräfte oder Ausstattung ist laut Rackles eine gewichtige von mehreren Abwehrstrategien gegen Inklusion. So schränkt etwa Nordrhein-Westfalen das Wahlrecht der Eltern ein, wenn die „personellen und sächlichen Voraussetzungen“ am gewählten Förderort, sprich der Regelschule, nicht erfüllt sind.
Gleichzeitig hat die schwarz-gelbe Regierung aber die Mindestgröße für Sonderschulen aufgehoben. Das ist auch in anderen Bundesländern der Fall. Auf diese Weise werden Sonderschulen „im Schulnetz gehalten, die angesichts sinkender Nachfrage und fehlender Wirtschaftlichkeit eigentlich zu schließen wären“, heißt es in dem Bericht.
Als weitere Abwehrstrategien nennt Rackles auch sprachliche Umdeutungen – statt „Sonderschule“ wird heute von „Förderschule“ gesprochen – oder den Verweis auf das „freie Elternwahlrecht“, der jedoch nicht mit dem Rechtsanspruch auf inklusive Beschulung verknüpft werde. „Er richtet sich gerade in den Kernländern der Exklusion faktisch auf den Erhalt der Sonderschule.“
Inklusive Bildung ins Grundgesetz
Im Ergebnis seiner Analyse schlägt Rackles mehrere Handlungsempfehlungen vor, unter anderem die, das Recht auf inklusive Bildung auch im Grundgesetz zu verankern. Zudem müsse es einen „länderübergreifenden Planungsrahmen“ geben, der im Idealfall bundesweite Standards, Indikatoren und Rahmenbedingungen gewährleiste.
Von der Kultusministerkonferenz erwartet Rackles keine großen Impulse, auch eine Zuständigkeit des Bundes sieht er kritisch. Mit seiner Untersuchung richte er sich vor allem an die Zivilgesellschaft – insbesondere auch an die Kirchen, die viele Sonderschulen betreiben. „Wir brauchen eine neue öffentliche Debatte über inklusive Bildung, die Druck auf die Politik macht“, so der ehemalige politische Spitzenbeamte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ministerpräsident in Thüringen gewählt
Mario Voigt schafft es im ersten Versuch
Syrien nach Assad
„Feiert mit uns!“