Chiles Geschichte in Protestsongs: „El Pueblo unido…“
50 Jahre nach dem Putsch in Chile. Welche Lieder haben weltweit die Geschichte Chiles begleitet? Ein chilenisches Liederbuch des Protests.
Violeta Parra – Yo canto a la diferencia (1961)
Zu den 150. Unabhängigkeitsfeiern Chiles nahm die legendäre Folkloresängerin dieses Lied im Tonada-Rhythmus auf. In zehn Strophen und ohne Refrain erzählt sie von den Feierlichkeiten und der Spannung, die durch die Gegensätze an dem so symbolträchtigen Datum entsteht: die Liebe zu nationalen Emblemen gegen die soziale Marginalität vieler. Es ist der erste Protestsong in der Geschichte Chiles und vereint drei Elemente der Figur Violeta Parras: die Rettung der Folklore durch ihre Übertragung ins Städtische, die Persönlichkeit der Liedermacherin und ihre kritischen, anklagenden Texte.
Los Mac’s – La muerte de mi hermano (1967)
Los Mac´s wurden Anfang der sechziger Jahre gegründet, um den Sound der Beatles zu imitieren, und entwickelten sich parallel zu dem Liverpooler Quartett, bis sie ihr eigenes Stg.-Peppers-Album, „Kaleidoscope Men“, im November 1967 veröffentlichten. Das Album gehört zum Besten der lateinamerikanischen Psychedelik und enthält den Song „La muerte de mi hermano“, der die US-Invasion in der Dominikanischen Republik im Jahr 1965 anprangert. Es war der erste chilenische Rockhit, der hohe Platzierungen in den Charts erreichte, und gilt bis heute als der erste Song, das den Rock mit dem von den Anhängern der „Nueva Canción Chilena“ entwickelten sozialen Liedgut verbindet.
Der Text ist am 8. September 2023 als Teil einer achtseitigen Chile-Beilage in der taz erschienen. 50 Jahre ist es her, dass in Chile ein von den USA unterstützter Militärputsch am 11. September 1973 der demokratisch gewählten Regierung des Sozialisten Salvador Allende ein jähes Ende setzte. Mehr als 3.000 Menschen kamen während der folgenden Diktatur (1973 – 1990) ums Leben, noch mehr wurden inhaftiert, gefoltert und ins Exil getrieben. Die taz Panter Stiftung nimmt das Jubiläum zum Anlass, um zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und unterstützt von der Stiftung Umverteilen an die damaligen Geschehnisse zu erinnern und zugleich zu fragen, wie die Ereignisse vor 50 Jahren die gesellschaftlichen Verhältnisse von heute beeinflussen. Einige Texte wurden auch auf Spanisch veröffentlicht.
Quilapayún – El Pueblo unido jamás será vencido (1973)
Mit „Gracias a la vida“ von Violeta Parra und „El derecho de vivir en paz“ von Víctor Jara ist „Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“ das vielleicht weltweit bekannteste chilenische Lied. Der von Sergio Ortega komponierte und der Folkloregruppe Quilapayún interpretierte Song wurde nur Wochen vor dem Staatsstreich von 1973 uraufgeführt, um alle Kräfte angesichts des drohenden Zusammenbruchs der Demokratie zu mobilisieren. Der Marsch gilt heute als Vertonung eines universellen Mahnrufs, der fünf Jahrzehnte Geschichte und tausende Kilometer Breitengrade umspannt.
Víctor Jara – Manifiesto (1974)
Ein Lied, in dem der berühmte Sänger die ganze Bedeutung seiner Musik, seiner künstlerischen Sensibilität und seiner politischen Subjektivität zum Ausdruck bringt. Ein Lied mache Sinn, „wenn es in den Adern pocht“, lautet darin eine Zeile, die Jara kurz vor seiner brutalen Hinrichtung fünf Tage nach dem Staatsstreich von 1973 schrieb. „Manifiesto“ wurde von seiner Frau Joan Turner 1974 posthum im englischen Exil veröffentlicht und mit der Zeit zu einem ethischen Leitfaden für kommende chilenische Liedermacher:innen.
Gala Torres y Conjunto folclórico de la Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos – Cueca sola (1978)
In den dunkelsten Jahren der Militärdiktatur interpretierte der Conjunto Folklorico de la Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos, inspiriert durch die Texte der chilenischen Menschenrechtsaktivistin Gala Torres, den chilenischen Nationaltanz neu und thematisierte dabei die tiefste Wunde der jüngsten Geschichte des Landes: die verschwundenen politischen Gefangenen. Die Darbietung der Frauen, die ganz allein singen und tanzen, ist bis heute eines der stärksten Bilder des kulturellen Widerstands gegen das Pinochet-Regime – Police-Sänger Sting motivierte es zu seinem Lied „They Dance Alone“, und es war wesentlicher Bestandteil jener Fernsehsendung, die das „NEIN“ bei der Volksabstimmung von 1988 propagierte und schließlich der Diktatur ein Ende setzte.
Sol y Lluvia – Adiós general (1980)
Musikexpertin Marisol García bezeichnet Sol y LLuvia als eine Band mit extrem populären Liedern, wobei sie die proletarischen Ursprünge von Sol y Lluvia hervorhebt, die weit vom linken kulturellen Dirigismus der 1980er Jahre entfernt sind. Dennoch wurde „Adiós general“ – inspiriert von dem Lied „Adios juventud“ des Uruguayers Jaime Ross – zur Hymne, die den Sturz Pinochets vertonte und auch vier Jahrzehnte später noch wie kaum ein anderes Lied seiner Generation die Stimmen des Widerstands und des Protests mobilisiert.
Los Prisioneros – El Baile de los que sobran (1986)
Die wichtigste Rockband der chilenischen Geschichte hat eine Protesthymne für den ganzen Kontinent geschrieben. Die Formel ist einfach, aber effektiv: Popmusik mit sozialen Texten. Die vom melancholischen Gesang der Linken enttäuschte Jugend fand in Los Prisioneros seinerzeit ihre neuen politischen und kulturellen Wortführer. Ein Lied über die fehlenden sozialen Aufstiegsmöglichkeiten für Jugendliche aus den unteren Gesellschaftsschichten, dessen Text laut Bandleader Jorge González in Chile leider auch heute noch Gültigkeit hat.
Mauricio Redolés – ¿Quién mató a Gaete? (1996)
Es schien, dass nach der Rückkehr zur Demokratie die Zeit des Lamentierens in Chile vorbei sei und die Gesellschaft zu Gerechtigkeit, Frieden und Entwicklung finden würde. Doch der postdiktatorische Übergang zeigte schnell seine Brüche, die 1996 in dieser fast siebenminütigen, eklektischen, ikonoklastischen, aber auch urkomischen Rocksuite des Dichters, Musikers und ehemaligen politischen Gefangenen Mauricio Redolés zum Vorschein kamen. Anhand des mysteriösen Todes von „Gaete“ beschreibt Redolés die Verwirrung eines Landes, das sich auf dem Weg in die kapitalistische Moderne befand, ohne seine dringendsten Schulden zu begleichen, und das sich beim Blick in den Spiegel illusorischerweise England näher fühlte als seinen Nachbarn im Süden des Kontinents.
Ana Tijoux – Shock (2011)
Ana Tijoux, Chiles bedeutendste Rapperin, fand in der aufbrausenden Studentenbewegung von 2011 den idealen Rahmen, um die These der Journalistin Naomi Klein über das Laboratorium, das Chile für die Durchsetzung des neoliberalen Systems war, in Musik umzusetzen. „Shock“ ist ein prägnanter und intelligenter Song, der zum Soundtrack der Proteste wurde, die die erste Regierung des Unternehmers Sebastián Piñera in Schach hielten.
Pablo Chill-E – Facts (2019)
Wie zuvor Violeta Parra in der „Nueva Canción Chilena“ und Jorge González im Rock, so fand auch Trap in dem jungen Pablo Chill-E einen Anführer, seinen wichtigsten Bezugspunkt und seine archetypische Figur. Ausgestattet mit einem Talent, das ihn auf dem ganzen Kontinent populär gemacht hat, beschwört er in „Facts“ jenen Überdruss, der Monate später in der Revolte vom Oktober 2019 explodieren wird. Denn für Pablo werden in Chile „Kinder geboren, um Gefangene zu sein“, während die Armen „nicht mit einem Gebet“ essen.
LASTESIS – Un violador en tu camino (2019)
Musik nicht mehr als Lied, sondern als Aktion. Das feministische Kollektiv LASTESIS aus Valparaíso komponierte inmitten der sozialen Revolte von 2019 eine Kunstperformance (mit Musik, Reden, Kostümen und einer Choreografie), um das Patriarchat und seine unausweichliche Verbindung mit dem Unterdrückungsapparat des Staates anzuprangern. In nur zwei Wochen verbreiteten Millionen von Frauen auf der ganzen Welt die Performance in den wichtigsten Hauptstädten des Planeten und machten sie zu einer der Hymnen des Feminismus im 21. Jahrhunderts.
Aus dem Spanischen: Ole Schulz
Cristofer Rodríguez koordiniert das kollektive und selbstverwaltete Projekt „50 años, 50 canciones“ zu populärer Musik, Erinnerung und Menschenrechten 50 Jahre nach dem Staatsstreich in Chile.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!