Chef:innen der Berliner Linksfraktion: „Das BSW ist eine Projektionsfläche“
Anne Helm und Tobias Schulze suchen nach Wegen, die Linke in Berlin wieder voranzubringen. Ein Gespräch über Wagenknecht, Kiezarbeit – und die SPD.
taz: Frau Helm, Herr Schulze, nach dem Abgang der Wagenknecht-Getreuen war in der Berliner Linken ja eine Art Aufbruchstimmung zu spüren. Wie kalt hat Sie der Absturz auf 7 Prozent bei der Europawahl in Ihrer einstigen Hochburg erwischt?
Helm: Vorweg: Ich bin der Überzeugung, dass wir in Berlin noch ziemlich gut aufgestellt sind. Nichtsdestotrotz sind wir natürlich Teil der Linken, und die befindet sich in der Krise. Daher hat uns das Ergebnis dann auch wieder nicht ganz kalt erwischt.
Schulze: Dass es Verluste geben würde, auch in Richtung Wagenknecht, war klar. Überrascht hat uns, wie groß sie ausgefallen sind.
Anne Helm steht seit 2020 an der Spitze der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Die 38-jährige Synchronsprecherin gehört dem Parlament seit 2016 an, aktuell auch als Sprecherin für Aufarbeitungspolitik und Medienpolitik ihrer Fraktion. Zwischen 2011 und 2016 war sie Bezirksverordnete in Neukölln. Mitglied der Linken ist sie 2014, davor war sie bei den Piraten.
Tobias Schulze trat im Juni die Nachfolge von Carsten Schatz als Co-Vorsitzender der Linksfraktion an. Der 48-jährige Literatur- und Politikwissenschaftler wurde wie Helm erstmals 2016 ins Landesparlament gewählt und ist hier Experte für Gesundheit und Wissenschaft. Zwischen 2016 und 2023 war Schulze Vize-Landeschef der Linken, in deren Vorgängerpartei PDS er 1999 eingetreten war.
Sie sagen: „auch in Richtung Wagenknecht“. Tatsächlich haben Sie stark an das BSW verloren, das perspektivisch weiter Zulauf erhalten dürfte. Wie groß ist die Gefahr, die von der neuen Partei für die Zukunft Ihres Landesverbands ausgeht?
Helm: Wir nehmen das ernst. Und wir müssen uns die Frage stellen, warum Menschen kein Vertrauen mehr zu uns haben. Denn das verliert man gern aus dem Blick: Wir haben zwar Abwanderungen zum BSW, wir haben aber auch Abwanderungen ins Lager der Nichtwählenden.
Unter Letzterem leiden Sie aber nicht erst seit dem BSW.
Helm: Aber das hat noch mal zugenommen, und zwar trotz des „Angebots“ des BSW, ein Programm hat Wagenknecht ja nicht.
Trotzdem wird sie gewählt.
Helm: Das BSW ist aktuell vor allem eine Projektionsfläche. Das soll nicht bedeuten, dass wir nicht möglicherweise auch eine Lücke lassen für eine solche Projektion.
Schulze: Wir haben aber auch schon gesehen, wie ultrapopulistische Projekte relativ schnell in sich zusammenfallen, wenn es um konkrete Politik geht. Durch die Berliner Stadtpolitik wird der Ukrainekrieg nicht beendet. Hier geht es um bezahlbaren Wohnraum, den Kampf gegen Kürzungen, um Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte. Auf diesen Ebenen ist das BSW überhaupt nicht präsent. Wir reden jetzt aber ein bisschen viel über Wagenknecht.
Dann lassen Sie uns weiter über die besagte Lücke sprechen, die die Linke hinterlassen hat. Damit können Sie nicht zufrieden sein.
Schulze: Wir wissen selbst, dass wir nicht nur eine aktivistische Innenstadtpartei sein können. Wenn wir wieder zweistellig sein wollen, dann müssen wir auch die gesellschaftspolitisch eher konservativeren Schichten erreichen, die vielleicht eher in den Außenbezirken wohnen, die nicht alles teilen, was die linke Szene in Neukölln oder in Kreuzberg teilt, die aber trotzdem linke Politik brauchen. Auch zu denen müssen wir durchdringen.
Gut und schön, aber wie?
Schulze: Wir wollen die materiellen Konflikte der Menschen in dieser Stadt politisieren: bezahlbare Mieten, wohnortnahe Gesundheitsversorgung, Schulplätze. Diese Probleme teilen alle – egal ob Handwerker oder Studentin. Und wir müssen vor Ort sein und diese Probleme aus den Kiezen ins Abgeordnetenhaus tragen. Sodass allen klar wird: Wir sind die Partei, die zuverlässig für die Interessen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Menschen in prekären Verhältnissen eintritt.
Die Partei Seit der Abgeordnetenhauswahl 2016 (15,6 Prozent) und der Bundestagswahl 2017 (18,8 Prozent) ging es für die Linke in Berlin bei allen Wahlen kontinuierlich bergab. Vorläufiger Tiefpunkt: die Europawahl am 9. Juni mit 7,3 Prozent (bundesweit: 2,7 Prozent). Vor allem in ihren Ex-Hochburgen im Osten hat die zwischen 2016 und 2023 in Berlin mitregierende Linke massiv Wähler:innen verloren. Im Abgeordnetenhaus hat die Oppositionspartei derzeit noch 21 Sitze.
Die Abspaltung Das Anfang des Jahres zur Bundespartei ausgerufene Bündnis Sahra Wagenknecht will an diesem Sonntag einen Berliner Landesverband gründen. Aktuell hat die migrationsfeindliche Linken-Abspaltung rund 80 Mitglieder in Berlin. Bei der Europawahl kam sie hier aus dem Stand auf 8,7 Prozent (bundesweit: 6,2 Prozent). Im Landesparlament ist das BSW bislang durch einen Abgeordneten vertreten: Alexander King hat die Linke nebst Fraktion 2023 verlassen, er soll nun Co-Landeschef des BSW werden. (rru)
Helm: Wir brauchen Perspektiven für Veränderungen, bei denen die Menschen nicht ständig das Gefühl haben, dass ihnen etwas abverlangt wird, ohne dass es für sie selbst besser wird. Das ist mühselig, absolut mühselig, aber man muss es machen, und zwar zusammen mit den Betroffenen. Die Leute haben die Schnauze voll davon, dass ihnen vom Laternenpfahl gepredigt wird, was sie als richtig zu empfinden haben.
Schulze: Es ist ein steiniger Weg, mit den Leuten im Kiez zu arbeiten, sie auch ein Stück weit zu organisieren, gemeinsam für Dinge zu streiten. Aber ich glaube, dass sich das zum Schluss auszahlt.
Und die Linke bei der Abgeordnetenhauswahl 2026 eben wieder zweistellig wird?
Schulze: Ich stelle mal die These auf, dass sich die materiellen Konflikte mit der aktuellen Haushaltskrise zuspitzen. Der Bedarf an einer Partei, die diese sozialen Konflikte aus der Stadt ins Parlament trägt, wird deshalb eher steigen als abnehmen. Da sehen wir unsere Rolle.
Sie sprechen den Haushalt an, die Linke warnt seit Monaten vor einer großen „Abbruchkante“ 2026. Ist das nicht etwas zu alarmistisch?
Helm: Im Gegenteil. Wir haben der Regierung jetzt zwar die Haushaltsdebatte aufgezwungen und auch erklärbar gemacht, welche Folgen eine Haushaltspolitik wie die von Schwarz-Rot hat, die bei der öffentlichen Infrastruktur auf Verschleiß fährt. Aber wie teuer, richtig, richtig teuer das in den nächsten Jahren und für die nächsten Generationen wird, wird erst langsam klar.
Tobias Schulze
Schulze: Wir werden jetzt Abwehrkämpfe zu führen haben gegen die Kürzungen und auch gegen Privatisierungsvorhaben, die mit dem Haushaltsloch wieder massiv aufkommen werden. Das kann im Gesundheitsbereich Krankenhausträger betreffen oder entsprechend zu modernisierende Liegenschaften wie das Wenckebach-Klinikum. Oder im Kulturbereich die Komische Oper. Das alles wird jetzt unter Privatisierungsdruck geraten, gegen den wir uns mit aller Kraft stellen. Wir wissen ja aus den Sparjahren Anfang der 2000er, dass Privatisierungen zu nichts führen, jedenfalls nicht zum Gemeinwohl für die Stadt.
Aber das Klimasondervermögen ist Geschichte, ein Umgehen der Schuldenbremse ist verfassungsrechtlich nicht möglich. Irgendwo muss das Geld herkommen.
Schulze: Aber es gibt Alternativen zu Privatisierungen. Investitionen lassen sich beispielsweise durch Transaktionskredite über öffentliche Unternehmen finanzieren. Der Investitionshaushalt muss so entlastet werden, dass der soziale Bereich, die Kultur, Bildung, Wissenschaft, Gesundheit, dass das alles nicht rasiert wird. Da werden wir die soziale Opposition sein, die diese Verteilungskämpfe, um die es sich im Kern handelt, auch hier im Abgeordnetenhaus führt.
Dass irgendetwas rasiert wird, scheint aber unausweichlich. Koalitionsintern wird schon davon gesprochen, dass 2025 eventuell ganze 5 Milliarden eingespart werden müssen.
Schulze: Das ist irre. Wo denn? Die diskutieren auch ernsthaft über den Verkauf von einzelnen Vivantes-Standorten. Die will doch keiner haben. Da stehen Planbetten drin, die müssen betrieben werden, und Vivantes macht Minus damit. Was soll diese Debatte?
Hier in Ihrem Büro hängt der Spruch „Alle wollen regieren, wir wollen verändern“. Manche in Ihrer Fraktion möchten 2026 wieder in Regierungsverantwortung, andere wollen das bekanntlich nicht. Und Sie?
Helm: Ich finde, diese Debatte – Regieren oder Opponieren – ist eine unpolitische. Wir wollen in dieser Stadt etwas verändern und dafür brauchen wir Mehrheiten. Die Frage ist, unter welchen Umständen und unter welchen Voraussetzungen kann man am besten etwas verändern.
Das wäre doch aber die Regierungs-, nicht die Oppositionsbank?
Anne Helm
Helm: Bestenfalls in der Regierung, klar. Aber das ist dann immer das Ergebnis von Verhandlungen, wo man dann auch schauen muss, ob man es unter den Haushaltsvoraussetzungen 2026 schafft, sich auf einen Pfad zu einigen, der realistisch ist und trotzdem in die richtige Richtung geht. Und ob die Basis das dann auch mitträgt.
Wäre das Regieren unter den absehbaren Haushaltszwängen überhaupt attraktiv für Sie?
Helm: Es geht ja nicht darum, ob wir da Lust drauf haben. Die relevantere Frage ist, ob sich Berlin noch mal diese Beutegemeinschaft Schwarz-Rot leisten kann.
Schulze: Stadtpolitik ist kein Ponyhof. Da kann man sich nicht aussuchen, unter welchen Bedingungen man dann rankommt. Und Linke werden häufig gewählt, wenn der Haushalt im Eimer ist. Das hatten wir schon mehrfach.
Notwendiger Partner für ein „Rankommen“ wäre freilich die SPD. Also jene Partei, die Sie als Teil einer Beutegemeinschaft beschreiben – und die zugleich 2023 selbst mit großer Geste das Tischtuch zu Grünen und Linken zerschnitten hat. Die Zeit heilt alle Wunden?
Helm: Ach je, um sich in die schwarz-rote Koalition zu treiben, hat die SPD ihrer eigenen Parteibasis erzählt, dass es keinen Weg zurück gebe. Aber auf diese Propaganda darf man nicht reinfallen, und die Propaganda werden wir auch nicht mitmachen.
Schulze: Wir haben immer noch eine Mehrheit Mitte-links in diesem Parlament. Wir werden sehen, wie gut die schwarz-rote Koalition durch die Auflösung der Pauschalen Minderausgaben 2025 und die Haushaltsaufstellung in Richtung 2026 kommt. Wir als Linke machen unsere Vorschläge. Vielleicht stellt der eine oder die andere in der SPD ja fest, dass diese Vorschläge mehr zu tun haben mit dem, was er oder sie will, als mit dem, was der Partner CDU will, mit dem sie gerade im Bett sind. Schauen wir mal.
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