Chancengleichheit im Fußball: Wer wird Profi?
Fußball gilt als Volkssport: egalitär, durchlässig, sozial durchmischt. Hier hat jeder eine Chance – aber auch die gleiche?
D ie Straße ist leer am Samstagmittag am Rand von Mönchengladbach, gutbürgerliche Häuser reihen sich an griechische und italienische Imbissbuden, Traktoren tuckern vorbei. Drückende dörfliche Stille. Die Fußballnationalmannschaft der Männer spielt an diesem Abend im nahe gelegenen Stadion gegen Belarus, aber in der Nachbarschaft hängen nur Flaggen von Borussia Mönchengladbach, derzeit tatsächlich Tabellenführer der Männer-Bundesliga.
Und in einem Lokal direkt um die Ecke spricht ein Jugendlicher von dem großen Traum, den so viele haben, der natürlich auch seiner ist. „Ich habe schon immer davon geträumt, Fußballprofi zu werden“, sagt Cem Dag, 16 Jahre alt, Nachwuchsspieler in der U17 von Borussia Mönchengladbach. Die Frisur trägt er wie die Profis, an der Seite abrasiert, oben Vogelnest-Look; halb ist er schon einer von ihnen, aber er spricht offener, manchmal schüchterner. Cems Großvater kam 1963 als Gastarbeiter nach Deutschland, er arbeitete hart für den Unterhalt einer siebenköpfigen Familie, und der Enkel könnte, wenn er Glück hat, Millionär werden. Ein Märchen der Leistungsgesellschaft.
Der Fußball ist der Stoff, aus dem gesellschaftliche Aufstiegsträume sind, ein erbarmungsloses und vielleicht auch im besseren Sinne grenzenloses Geschäft. Alle für diesen Text aus der Branche Befragten bestätigen: Kaum ein anderer Sport ist so egalitär, so sozial durchmischt. Wie schafft er das? Und warum spielen soziale Herkunft und Geschlecht dennoch eine Rolle? Denn, ja, der Fußball gibt jedem eine Chance. Aber eben nicht jedem die gleiche.
Cem Dag lässt gern seinem Vater das Wort, der ihn heute, wie so oft, begleitet. Dann kreist Cem mit dem Kopf hin und her, ein bisschen hibbelig, ein bisschen abwesend, er kennt ja seine Geschichte, ihrer beider Geschichte. Auch Ali Dag war talentiert. In den siebziger Jahren kickte er auf den Betonplätzen von Berlin, aber „wenn wir da drei Tage gespielt hatten, waren die Schuhe kaputt“. 20 Mark für neue Schuhe, das konnte sein Vater, der Großvater Dag, nicht bezahlen. Zum Fußballprofi brachte Ali Dag es nie, eine Laufbahn gescheitert auch am Geld.
Er spricht zugewandt und nachdenklich: „Vielleicht will ich Cem auch deshalb seine Träume ermöglichen.“ Er hat viel dafür geopfert. Um den Sohn hin- und herfahren zu können, hat Ali Dag eines Tages seinen Job gekündigt. Er fing als Taxifahrer an, sieben Jahre lang Taxi für Cem, um flexibler zu sein, „sonst hätte ich ihn nicht begleiten können“. Eine Karriere kostet mehr als Geld.
Wie Cems Karriere begann
Mit zehn Jahren kam Cem ins Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) von Union Berlin, gegen 200 Jungs setzte er sich durch. Als Jugendlicher entschied er sich für Gladbach, die Durchlässigkeit in die erste Mannschaft sei hoch. Seine Laufbahn erzählt, was den Männerfußball vergleichsweise egalitär macht, vielleicht mehr noch als früher. Seit 2002 haben alle Erst- und Zweitligisten verpflichtend ein NLZ, 1,57 Milliarden Euro wurden seither von den Klubs darin investiert. Einige Zentren beginnen mit der U12, andere schon mit der U8. Es geht also nicht nur um Jugendliche, sondern auch um Kinder. Mache haben schon mit zwölf Jahren einen Berater.
„Einem Talent ermöglichen die Vereine alle Unterstützung“, sagt Ali Dag. „Kein Supertalent fällt durch.“ Die NLZ zahlen den Kindern außer den Schuhen fast alles. Auch Cem bekommt mit 16 Jahren schon ein Gehalt – und das zusätzlich zur Rundumversorgung im Internat.
Und doch zählen, je enger das Rennen wird, umso mehr auch andere Faktoren. Mobilität, Organisation, Flexibilität. „Nicht jeder kann sich die Zeit nehmen“, sagt Ali Dag. Jeden Tag fuhr er den Sohn. Als Cem nach Mönchengladbach kam, allein, war er 14 Jahre alt. Es fiel ihm anfangs schwer hier, vor allem weil das Schulniveau höher war. „Mein Englisch war schon immer eine Katastrophe“, sagt er grinsend, dann ernst: „Die Lehrerin hat mich vor der Klasse bloßgestellt, ich habe manchmal überreagiert. Das hat sich alles aufs Sportliche ausgewirkt, ich habe zu dieser Zeit nicht gut gespielt. Es war hart ohne meine Eltern.“
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Und die taten, was sie ohnehin geplant hatten: Sie zogen dem Jungen hinterher. „Da wurde alles besser“, sagt Cem. „Ich wurde ruhiger, ich hatte mehr Selbstvertrauen.“ Man spürt die enge Bindung zwischen Vater und Sohn. Nicht jede Familie hätte sich das leisten können oder wollen. Chancengleichheit baut auch auf Rückhalt und Unterstützung aus dem eigenen Umfeld auf.
Der Sport spiegelt gesellschaftliche Hierarchien
Die Dags wirken zufrieden mit dem System Fußball. Wenn andere Eltern sich über Diskriminierung beschweren, sagt Ali Dag: „Das muss man differenziert sehen.“ Viele zögen diese Karte, sobald ihr Kind aus der Startelf falle. Aber natürlich könnte der Tag kommen, an dem man Cem misstrauischer beäugt als andere. Zwei U-Länderspiele für die Türkei hat er bislang gemacht. „Nicht weil das mein Land wäre oder ich mich mehr türkisch als deutsch fühle“, sagt er ein bisschen vorsorglich. Sie fragten halt bei ihm an, Deutschland bislang nicht, und ihm gefiel die entspannte Atmosphäre im Team.
Für Jungs wie ihn ist Fußball ein Minenfeld der Integrationsdebatte; ein falscher Like brachte den Kollegen Can und Gündogan einen langen Shitstorm, ein Autokratenfoto beendete die Nationalelf-Karriere von Mesut Özil.
Gern geriert sich der Sport als demokratisch, aber in Wahrheit spiegeln die meisten Sportarten gesellschaftliche Hierarchien. Im teuren Tennis, Segeln oder Golf werden Kinder finanziell diskriminiert, in brotloser Kunst wie der Leichtathletik können sich Ärmere eine Karriere selten erlauben; und in überdurchschnittlich gesundheitsgefährdenden Sportarten wie American Football und Boxen lassen sich oft vor allem die Armen für Geld die Köpfe einschlagen.
Der Fußball dagegen hat Bemerkenswertes geschafft. Die Teams sind sozial sehr durchmischt, glauben alle, die sich auskennen. Es ist eine spezielle, kaum übertragbare Konstellation: hohe Popularität, geringe Kosten, große Verdienstmöglichkeiten und extreme Konkurrenz. Dazu das sehr soziale, integrative Konstrukt Verein. Aber gesellschaftliche Hierarchien schaltet das nicht völlig aus.
Herkunft als Faktor
Die Herkunft beeinflusst nicht nur den Beginn, sondern auch den Weg einer Karriere auf widersprüchliche Weise. Der Schwede Zlatan Ibrahimović baute auf sozialem Aufstieg erfolgreich seine Marke auf: der coole, authentische Außenseitertyp. Andere wie Wayne Rooney blieben am Image des ungebildeten Deppen aus der Arbeiterschicht kleben. Und der HSV-Profi und aus Gambia geflüchtete Bakery Jatta wurde zuerst romantisiert und musste dann wegen angeblich gefälschter Identität monatelang Hass- und Boulevardkampagnen ertragen. Auch daran scheitern Karrieren. Daten darüber, aus welchen Milieus sich die Leistungsspitze zusammensetzt, fehlen erstaunlicherweise. So bleiben vor allem Geschichten.
Viele schaffen es jedoch nicht einmal in einen Verein. Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status treiben weniger Sport; zu dieser Erkenntnis kommen Studien durchweg. Nicht nur das Einkommen, sondern auch der Bildungsstatus und die berufliche Stellung der Eltern fließen in die Berechnung ein. Kinder, deren Familien dort schlecht abschneiden, sind weniger informiert über Angebote, nehmen weniger am Vereinsleben teil und haben, das ist ein Kernelement, weniger sportaktive Eltern. Wer sich mit Sport auseinandersetzt, muss im Kopf behalten: Fast 50 Prozent der Menschen aus prekären Verhältnissen finden gar nicht erst den Zugang zum Sport.
Es ist früher Abend in Berlin-Kreuzberg und laut bei Türkiyemspor. Der Lärm, die Gespräche, das Ein- und Ausgehen sind Dauerzustand in dem winzigen Büro des Klubs, in das kaum ein Schreibtisch und zwei Stühle passen. Drei Spielerinnen müssen zum Rapport; währenddessen will drinnen ein Vater seine Tochter abmelden, ein Trainer bringt Tee, und irgendjemandes Hund drängt sich auch noch im Büro herum.
Die meisten Kinder in Deutschland lernen Fußball in einem Amateurverein. Diese klassische Laufbahn ist erschwinglich, und Bildungs- und Teilhabegutscheine können pro Monat 15 Euro Mitgliedsbeitrag abdecken. Giovanna Krüger, Leiterin der Frauen- und Mädchenabteilung bei Türkiyemspor, hat einen langen Tag hinter sich. Jetzt befasst sie sich mit allen möglichen Wünschen und Nöten, mit der Toughness von einer, die so etwas gewohnt ist. „Je früher die Kinder anfangen, desto eher hat man die Chance auf soziale Durchmischung“, sagt sie. „Bei uns spielen Arbeiterkinder neben Lehrerkindern. Aber dass Fußball per se verbindet, ist eine Legende. Man muss schon eine Menge moderieren.“ So wie heute.
Armut als Motor oder Hindernis
„Für eine Karriere im Sport braucht man Disziplin und Verantwortungsgefühl“, sagt Krüger, „und die hat man nur, wenn man sicher aufgewachsen ist. Wenn Kinder kein stabiles Haus haben, fällt es ihnen schwerer.“ Türkiyemspor versuche, auch mit diesen Kindern zu arbeiten, doch teils gehen solche Talente verloren. Weil die soziale Frage im Fußball so vielschichtig ist, beobachtet Giovanna Krüger aber auch Kinder „aus desolaten Familienverhältnissen, die umso talentierter erscheinen. Fußball ist der einzige Wert, den sie für sich spüren.“
Bei Jungen speziell aus ärmeren Haushalten beobachten Trainer und Jugendleiter: „Da setzt die Familie viel stärker auf die Karte Fußball.“ „Sie werden ganz anders unterstützt, weil die Eltern sich erhoffen, dass das Kind irgendwann die Familie ernährt.“ Armut als Motor. Wenn der Sohn sonst aber eben Anwalt wird, setzt sich der Vater wohl nicht, wie im Falle von Cem, sieben Jahre ins Taxi. Eine Fußballkarriere ist für fast jeden bezahlbar, aber die Familie und deren Ressourcen spielen eben doch eine Rolle. Mancher aus schwierigen Verhältnissen scheitert genau daran. Und mancher schafft es genau deswegen.
Wenn Ifet Taljevic an seine Kindheit denkt, denkt er an Straßenfußball in Berlin, nonstop, von morgens bis abends. Taljevic, heute 39, sagt Sätze, die von anderen arg pathetisch klingen würden, aber bei ihm mit einem irgendwie nüchternen Tonfall gepaart sind. „Ich habe immer nur aus Liebe gespielt“ ist so ein Satz. Er weiß seine Liebe pragmatisch zu formulieren. „Meine Karriere war jetzt nicht übertrieben gut.“ Ifet Taljevic spricht übers Telefon, denn er lebt jetzt in der Schweiz, in Zürich, er lebt gut, und das verdankt er auch dem Fußball.
Der Mittelfeldspieler Ifet Taljevic war keiner der ganz Großen, eher einer aus dem großen Durchschnitt: Bei Hansa Rostock, dem Chemnitzer FC, dem FC St. Pauli hat er gespielt, ein Profi von vielen. Einen Karrierehöhepunkt hatte er in der Schweiz, wo er mal im Pokalfinale spielen durfte. Einer wie er, der nie im NLZ war, würde es heute kaum bis nach ganz oben schaffen; Miroslav Klose gilt als einer der letzten Straßenfußballer, die den reinen Vereinsweg gingen. Taljevic trainierte zwei- bis dreimal pro Woche, die Kinder trainieren derzeit jeden Tag, sie haben für den Bolzplatz oft keine Zeit mehr. „Es ist ein Business geworden“, sagt Taljevic.
Seine Geschichte ist aber auch eine darüber, was Sport verändern kann. Taljevic kam als Achtjähriger aus Jugoslawien nach Berlin. Die Mutter starb früh, der Vater arbeitete auf dem Bau, um die Familie durchzubringen. Aufgezogen habe ihn eigentlich der Cousin, der Ifet auch in den Fußballverein brachte. Nach allen gängigen Standards hatte Ifet Taljevic schlechte Startvoraussetzungen, aber im Spiel mit dem Ball fiel Geldnot nicht ins Gewicht. Nebenher machte er auf Wunsch des Vaters eine Lehre zum Bürokaufmann. Druck zur Fußballkarriere, nein, habe er nie bekommen. Im Gegenteil, der Vater drängte ihn vor allem zu Bildung: „Er wollte nicht, dass ich die Arbeit machen muss, die er machen musste.“ All das half Ifet Taljevic. Heute ist er Scout in der Schweiz und spricht sechs Sprachen, er konnte Geld ansparen, ein Selfmademan.
Das Rennen um die Spitzenkarrieren wird brutaler
Mittlerweile hat sich das Geschäft erheblich verändert. „Irrsinn“ nennen es einige, und gerade für die, die nicht als Toptalente gelten, wird es vor allem: teurer. Fußballschuhe kosten bis zu 290 Euro. Viele Vereine verlangen jetzt, dass neue Spieler ein Ausrüstungspaket erwerben; auch das kann laut eines Vorsitzenden bis zu 200 Euro kosten. Mittelgroße Klubs gerieren sich als teure Spitzenvereine, einige Gesprächspartner berichten von dort verbreiteter Käuflichkeit.
Einer, der bei mehreren größeren Berliner Vereinen tätig war, bestätigt: „Mir sind schon Bestechungsversuche von Eltern untergekommen. Mir wurden auch schon monatliche Bargeldsummen geboten, damit das Kind spielt. Von seriösen Trainern wird das abgelehnt. Aber mir sind Trainer bekannt, die nicht ablehnen.“ Auch privates Training im Verein komme vor. Das Rennen um die Spitzenkarriere wird rücksichtsloser, brutaler.
Verstanden haben diese Dynamik auch die vielen Privatakademien und Privattrainer, die jetzt ihre teils zweifelhaften Dienste anbieten. „Ein Preis von 100 Euro pro Stunde ist dort mittlerweile normal.“ Schon Sechsjährige würden beim Privatcoach angemeldet, sagt der, der bei mehreren Klubs tätig war, und: „Diese Angebote werden auch von ärmeren Familien wahrgenommen.“ Ein Trainer erzählt von der Mutter, die bis spätabends putzte, um dem Sohn den Fußball zu ermöglichen. Einer von Brüdern, die jobben gingen, damit das Geschwisterkind bei einem bestimmten Verein spielen kann. Da verbinden sich die zwei Faktoren, die Karrieren beeinflussen: Unterstützung und Geld. Wer sehr talentiert ist, für den findet sich eine Lösung. Viele andere gehen das harte Rennen mit.
Die Klubs sind Orte von Integration
Auch die Klubs selbst haben zu kämpfen. Sie finden nicht mehr ausreichend Ehrenamtler, Eltern sehen den Verein zunehmend als Dienstleister, die Preise für Material und Reisen sind explodiert. „Überregionale Busreisen für drei Teams können heute schon mal 20.000 Euro im Jahr kosten“, sagt einer. Murat Dogan, Trainer des Frauenteams bei Türkiyemspor, sagt nüchtern: „Wir sind permanent im Minusgeschäft. Das wirkt sich aus auf die Klientel, die Fußball spielt. Die Arbeiterkinder werden verdrängt.“ Noch sind gerade kleine Klubs Orte von Integration und Solidarität.
Es gibt viele Geschichten des Zusammenhalts: von Eltern, die einem fremden Kind aus ärmeren Verhältnissen Fußballschuhe kauften, von Secondhandbasaren im Verein. Vom Erlassen von Beiträgen, von Solidaritätstöpfen für Reisen, den zahllosen Sozial- und Integrationsprojekten, die sich kleine Vereine oft mühsam leisten. Und es seien vor allem die Trainer, die sich für benachteiligte Kinder engagierten. „Das Engagement der Trainer wird viel zu wenig gewürdigt.“ Ob dieses vorbildhafte System bestehen bleibt oder Privatschulverhältnisse in den Fußballklubs einkehren, hängt auch von der Zukunftsfähigkeit des alten Konstrukts Sportverein ab. Das knirscht und wackelt. Noch steht es.
Migrantenkinder sind ein gut zu erfassender Teil jener, die unterprivilegiert in den Fußball kommen. In den deutschen NLZ hatten im Jahr 2019 40 Prozent der Spieler einen Migrationshintergrund, deutlich mehr als der entsprechende Anteil an der Gesamtgesellschaft. Im Kader der deutschen Männer-Nationalmannschaft zur WM 2018 hatte immerhin etwa jeder Vierte ausländische Wurzeln. Für Migranten ist Fußball vergleichsweise durchlässig. Aber in den Gremien des DFB haben laut einem Deutschlandfunk-Bericht nur 8 von 220 Mitgliedern ausländische Wurzeln, und in der Bundesliga mangelt es auffällig stark an deutschen Trainern mit Migrationshintergrund.
Im WM-Kader der Frauen 2019 standen fast nur weiße Spielerinnen. Der Fußball ist eine Pyramide, bei der die Luft für weniger Privilegierte an zwei Stellen dünner wird: dort, wo die Macht sitzt; und dort, wo die Verdienstmöglichkeiten gering sind. Und beides gilt vor allem für eine Gruppe, die ohnehin diskriminiert wird: für Frauen und Mädchen.
Die Benachteiligung von Frauen
Jenny Hartwig (Name geändert) wollte auch mal ganz nach oben im Fußball. Sie hat es dabei ziemlich weit gebracht, aber ihr Leben unterscheidet sich fundamental von dem von Ifet Tajlevic. Hartwig sitzt im abgetrennten Teil in einer Dönerbude, nebenan findet eine Party statt, Männer tanzen, der Beat dröhnt. Draußen regnet es. Wir treffen uns in ihrem Heimatort, ihr Verein soll nicht unbedingt wissen, dass sie hier erzählt. Hartwig, heute 21 Jahre alt, galt als Talent mit großer Zukunft, sie war U-Nationalspielerin. Sie ist dort angekommen, wovon im Männerfußball viele träumen.
Jenny Hartwig
Aber weil sie eine Frau ist, verdient sie in ihrer Liga nur 200 Euro im Monat. Ein Mann verdient dort im Schnitt 37.500 Euro – ebenfalls pro Monat. Hartwigs Gehalt klingt nach Hobbyfußball, dabei ist sie Berufssportlerin, sie trainiert jeden Tag. Kaum eine Benachteiligung im Fußball ist so eklatant wie die von Frauen. Für Spielerinnen mit weniger reichen Eltern ist das ein Problem.
Grundsätzlich, findet Jenny Hartwig, gebe es viel gute Unterstützung für Mädchen aus ärmeren Familien: Reisen müssten in der Regel nicht selbst bezahlt werden, beim DFB gebe es als Startgeschenk ein Ausrüstungspaket, Vereine zahlen die Trikots, und Kaderathletinnen werden von der Sporthilfe unterstützt. Sie zeigt ein Schreiben, das belegt, dass sie Geld von der Sporthilfe bekam, 200 Euro im Monat. Nach der U-Nationalmannschaft aber war ihre Förderung beendet. „Es ist eine große Grube, in die man nach dieser Zeit fällt. Andere haben da vielleicht schon Profiverträge. Aber viele, mich eingerechnet, verlieren in dieser Phase den Anschluss.“
Denn sie müssen sich im Sport durchsetzen, sich gleichzeitig finanzieren und nebenbei in ihre Ausbildung investieren. Großzügige Förder- oder Sponsorenverträge gibt es, anders als bei den Männern, für Nachwuchsspielerinnen nicht; auch die Strukturen sind nicht vergleichbar mit dem engmaschigen Scouting- und NLZ-Netz im Männerfußball.
Keine Freiheit im Kopf
Eine Verbandsmitarbeiterin, die Hartwigs Fall kennt, bestätigt das Problem. „Schwierig wird es ab dem Punkt, an dem es um die Schwelle zur Profispielerin geht. Wer im DFB-Kader ist, bekommt Unterstützung. Aber ohne Kaderstatus, oft noch mit Studium und Studiengebühren, ist es finanziell sehr schwer. Und eigentlich braucht man zum Spielen diese Freiheit im Kopf.“
Jenny Hartwig beschreibt ihren Mittelschichthintergrund, die Eltern unterstützen sie bis heute mit monatlich 300 Euro für Haushaltskosten. Aber trotzdem wird es eng. Denn sie trainiert wie ein Vollprofi, fünfmal die Woche, am Wochenende Reisen, dazu die Uni. Dort sei sie irgendwann nicht mehr hinterhergekommen, gleichzeitig arbeitete sie noch in einem 450-Euro-Job, „aber meistens habe ich die Stunden nicht geschafft“. Als hauptberufliche Spielerin lebt sie von insgesamt 950 Euro im Monat, die Armutsgrenze liegt in Deutschland bei 781 Euro netto.
Das schlägt sich nieder auf ihre Karriere: Sie hat viel Stress, kann die Rundumanforderungen des Fußballs mit täglich frischer Kost und viel Schlaf nicht mehr erfüllen. Das Gefühl, nirgendwo genügen zu können, der psychische Druck, all das sorgt für Leistungsabfall. „Ich habe das Gefühl, dass ich früher meine gute Zeit hatte und es jetzt immer schwieriger wird.“
Manchmal merkt man Jenny Hartwig an, dass sie immer noch nicht aufgehört hat, zu träumen. „Vielleicht komme ich noch mal in die Nationalmannschaft und habe wieder die Sporthilfe“, sagt sie. „Aber bis dahin kämpfen? Und ob sich das finanziell lohnt?“
Im Schnitt verdienen Frauen in der Bundesliga rund 3.100 Euro im Monat. Das klingt nicht schlecht, allerdings wird der Schnitt verzerrt durch die Topklubs Wolfsburg und Bayern, wo es angeblich auch fünfstellige Monatsgehälter gibt. In den meisten anderen Klubs können die Frauen nicht vom Fußball leben, am unteren Ende der Skala verdienen sie laut einem FR-Bericht auch in der Bundesliga nur 250 Euro. Das Durchschnittsgehalt eines männlichen Bundesligaprofis wird dagegen auf 1,4 Millionen Euro für das Jahr 2018 geschätzt. In den Nachwuchsteams können schon 16-Jährige fünfstellige Monatsgehälter einstreichen.
Es gibt eine SpielerInnengewerkschaft, die FifPro, die sich aber erst 2015, 50 Jahre nach ihrer Gründung, dem Frauenfußball öffnete. An sie können sich SpielerInnen wenden, etwa beim Ausstehen der Bezahlung, bei unzulässigen Verträgen, schlechter Infrastruktur oder Mangel an Platzzeiten. 90 Prozent der befragten Frauen, schreibt die FifPro, würden den Fußballbetrieb zurzeit früher als altersmäßig nötig verlassen, also vor einem eventuellen Karrierehöhepunkt. Das umschreibt eindrücklich die aktuellen Verhältnisse. Auch das Fehlen von Mutterschutz ist ein Kernthema. Die Hürden sind aber noch viel grundsätzlicher: Weil sie keine Profis sind, kommen viele Spielerinnen nicht in die nationalen Gewerkschaften. Derzeit arbeitet die FifPro daran, sie überhaupt zu erreichen.
Für Marie ist der Fußball alles, was zählt
Ende Oktober, in einer Bäckerei in Berlin-Friedrichsfelde sitzt Daniela Steiner, und neben ihr changiert die Tochter Marie, 14 Jahre alt, zwischen Nervosität und der abgeklärten Coolness, die man als Teenager an den Tag legt, wenn Erwachsene über etwas reden, was einen nur am Rande interessiert. Marie Steiner ist eines der großen Nachwuchstalente im Berliner Fußball. Ihr erstes U-Länderspiel steht zu diesem Zeitpunkt noch kurz bevor, mit der U15 in der Schweiz, und die Mutter sagt: „Eigentlich ist Fußball im Moment für sie alles. Sie kann sich nichts anderes vorstellen.“
Marie, Stürmerin beim JFC Berlin, spielt wie so viele begabte Mädchen mit den Jungs, und sie blüht auf, wenn sie fußballerische Details erzählt, über ihren Spieltyp, über Zweikampfstärke. Sie verpasst kaum je ein Training, Fußball ist Liebe und Leichtigkeit. Sie sagt auch: „Mit der Schule ist das kein Problem.“ Mit den Jungs zu spielen auch nicht.
Daniela Steiner
Wenn Marie mit dem Berliner Fußball-Verband ins Ausland fährt, jedes Jahr einmal, kostet das einen Eigenanteil. „Geld macht schon einen großen Unterschied“, sagt die Mutter. Daniela Steiner ist Verkäuferin im Servicebereich, ihr Mann ist Postzusteller. Sie sagt: „Bei uns helfen die Großeltern mit, das zu finanzieren, sonst wären manche Lehrgänge vielleicht nicht möglich gewesen.“ Steiner sagt auch: „Selbst wenn man von der Reise ein Jahr vorher weiß, weiß man nie: Ist dein Kind eines von diesen 20, die mitfliegen, oder nicht? Es hängt von der Leistung ab, ob sie mitdürfen.“
Marie ist jetzt viel mit dem DFB unterwegs, die Lehrgänge seien vor allem im Westen Deutschlands. Und manche Eltern, die flögen hinterher. Einmal fuhren die Steiners auch, sie verbanden das mit einem Familienurlaub. Daniela Steiner glaubt, als Kind finde man es schon schön, wenn die Eltern gucken kommen. Aber oft ist es nicht machbar. Trotzdem versuchen sie, der Tochter vieles möglich zu machen. Die Spielerinnen, berichtet die Mutter, seien jetzt in einem Alter, wo Markenschuhe zählten. „Man überlegt zweimal, wann man welche Schuhe kauft, die sind ja nicht gerade billig.“
Zum Geburtstag hat sich Marie auch die von Nike gewünscht, für 250 Euro. Sie hat sie bekommen, sie hat selbst zugezahlt. „Die teuren Schuhe schützen besser vor Verletzungen“, sagt die Tochter.
In Maries Alter war auch Jenny Hartwig auf gutem Weg nach ganz oben; viel wird darauf ankommen, ob Marie frühzeitig einen Profivertrag bekommt und welche berufliche Laufbahn sie wählt.
Was der Fußball gibt und nimmt
Cem, Ifet, Jenny und Marie, sie alle verbindet ihre Liebe zum Fußball, aber was der Fußball ihnen gibt und nimmt, unterscheidet sich stark.
Auch die Geschichte des Fußballs ist von Unterschieden geprägt: Anfang des 20. Jahrhunderts, belegen Untersuchungen, war der DFB ein elitärer Bund von Ärzten, Juristen, Professoren. Es brauchte den 8-Stunden-Tag, staatliche Investitionen in Infrastruktur, und die Massenmedien, um Fußball für Arbeiter erreichbar zu machen. Der selbst organisierte Arbeiterfußball der zwanziger Jahre war dezidiert kritisch gegenüber Kommerz und Starkult, wurde vom NS-System aber schon 1933 zerschlagen. Der alternative Weg scheiterte. Im Profifußball, den es in Deutschland offiziell ab den sechziger Jahren gibt, bot sich für viele Kicker aus proletarischen Milieus die Chance zum Aufstieg.
Nachteile für Kinder aus prekären Verhältnissen gibt es aber trotzdem. Sie drücken sich im Männerfußball weniger im Geld aus, eher in Mobilität, Rückhalt, Disziplin, Organisation. Und in der Partizipation im Sportverein an sich. Zugleich gibt es bei Kindern aus ärmeren Verhältnissen aber auch Faktoren, die eine Karriere begünstigen: dass ihre Familien sie oft viel stärker unterstützen, dass sie selbst härter für die Karriere arbeiten, dass der Fußball die einzige Chance ist. Auch die Vereine und ihre Solidarität sorgen für hohe Durchmischung. Im Frauenfußball dagegen sind die Benachteiligungen klarer, extremer. Für Mädchen aus ärmeren Verhältnissen ist der Weg schwerer. Und der Vergleich mit den männlichen Kollegen fällt verheerend aus, sowohl was Status als auch Bezahlung angeht.
Marie Steiner ist noch weit weg von der Schwelle, die für Jenny Hartwig zum Problem wurde. Aber natürlich ist diese Hürde den Eltern bewusst. Die Tochter träumt von einer Profilaufbahn, sie hatte schon Angebote mehrerer namhafter Klubs. Die Mutter betont, eine Alternative sei trotzdem wichtig. „Davon allein wird sie nicht leben können.“ Marie sagt: „Ich will auf jeden Fall Abi machen.“ Und dann beruflich irgendwas in Richtung Sport, „vielleicht Physiotherapeutin“. Aber man merkt, dass das noch sehr abstrakt ist für sie. Marie Steiner spielt nicht, wie heute manche Jungs, für den Traum von großer Kohle und großem Aufstieg, sondern für den Traum vom großen Spiel. Ende Oktober fand ihr erstes Länderspiel statt, Maries Team gewann 3:2, ihre Eltern waren nicht dabei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert