Chancen für eine Zwei-Staaten-Lösung: Zwei Völker, ein Schicksal
Auf Einladung von Ha’aretz und Heinrich Böll Stiftung wurden in Berlin „Bruchlinien und Zukünfte“ im Verhältnis von Israel, Gaza und Deutschland diskutiert.
Die seit 1923 in Tel Aviv erscheinende Zeitung Ha’aretz lud in der vergangenen Woche ins Haus der Berliner Festspiele ein, um über „Bruchlinien und Zukünfte“ im Verhältnis von Israel, Gaza und Deutschland in Kriegszeiten und danach zu sprechen. Die erste Gesprächsrunde widmete sich dem desaströsen Bild, das viele progressive Linke, darunter prominente Intellektuelle, nach dem 7. Oktober abgegeben haben.
Chefredakteur Aluf Benn befragte dazu Eva Illouz, deren Buch „Nach dem 8. Oktober“ vor Kurzem auf Deutsch erschienen ist. Illouz wiederholte auf der Bühne ihre Kritik an jenen sogenannten Progressiven, die sich einer „moralischen Inversion“ schuldig gemacht hätten: Jüdische Opfer wurden entmenschlicht. Weder wurden die von den Hamas-Kommandos begangenen Morde beklagt, noch die von Männern aus Gaza vergewaltigten jüdischen Frauen als Opfer eines Verbrechens anerkannt.
Westlichen Aktivist*innen wirft Illouz vor, ausschließlich die Perspektive der radikalsten Palästinenser*innen zu übernehmen. An Friedensperspektiven sei dieser Aktivismus selten interessiert und lasse damit vielen Israelis die Behauptung ultrarechter Politiker in Israel, das Land sei allein in einer Welt voller feindseliger Antisemiten, noch plausibler erscheinen. Um einen Ausweg aus der katastrophalen Situation zu bahnen, müssten starke politische Koalitionen zwischen Israelis und Palästinensern geschmiedet, der Druck von außen erhöht werden.
Konkretes wird nonchalant umschifft
Darüber schienen sich die meisten der Diskutierenden einig zu sein: Nur ein funktionierender Staat Palästina eröffnet die Perspektive einer friedlichen Lösung, von der Israelis und Palästinenser gleichermaßen profitieren. Die Frage, was es jetzt konkret zu tun gilt, damit dieser Staat überhaupt ins Auge gefasst werden kann, wurde allerdings meist nonchalant umschifft.
Eine herausragende Ausnahme bildete Diskussionsrunde Nummer zwei, an der Bente Scheller von der die Konferenz mitorganisierenden Heinrich Böll Stiftung, Hiba Qasas, die Gründerin der Organisation Principles for Peace und Chefin der Koalition United for Shared Future, und Eran Etzion, ehemaliger Vizevorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats in Israel, teilnahmen.
Qasas wurde 1980 in Nablus geboren. Als sie 19 war, erschoss ein israelischer Soldat ihren Freund während einer Protestaktion, wenig später wurde das Haus ihrer Familie durch eine Panzergranate zerstört. Qasas machte Karriere bei den Vereinten Nationen, heute lebt sie in der Schweiz. Ihre Initiative bringt hochrangige palästinensische und israelische Persönlichkeiten zusammen. Zu den unverhandelbaren Prinzipien der Initiative gehören politische Selbstbestimmung und Sicherheit für beide Staaten.
„Der Status quo ist nicht aufrechtzuerhalten“, sagte Qasas und drückte ihre Hoffnung aus, dass sich derzeit die Möglichkeit eröffne, einen Rahmen für Fortschritt zu schaffen. Die Hamas müsse entwaffnet und eine Übergangsregierung in Gaza installiert werden. Die Palästinensische Autonomiebehörde signalisiere endlich Bereitschaft zu grundlegenden Reformen. Die Entstehung eines demilitarisierten Staats Palästina sei im Interesse beider Seiten.
Ihr Gesprächspartner Etzion hat als ehemaliges hochrangiges Mitglied des israelischen Sicherheitsestablishments vor einem Jahr mit einem Tweet Aufsehen erregt. Er hatte israelische Soldaten und Bürger dazu aufgerufen, sich dem damals formulierten „Plan der Generäle“ für Gaza zu widersetzen, weil dieser unweigerlich zu Kriegsverbrechen führen würde. Etzion glaubt, die Strategie von Ministerpräsident Netanjahu bestehe darin, eine Zweistaatenlösung unter allen Umständen zu verhindern und Israel in ein illiberales Land zu verwandeln. Bis jetzt sei diese Strategie genauso aufgegangen wie die Militäroperationen gegen die Hisbollah in Libanon und gegen Vertreter des Teheraner Regimes. Netanjahu wolle den Kriegszustand dauerhaft aufrechterhalten und die Justizreform vollenden, gegen die halb Israel über ein Jahr lang protestiert hatte. Die israelische Demokratie stehe auf dem Spiel.
Den auf Grundlage des Trump-Plans verfassten Entwurf des UN-Sicherheitsrats bezeichnete Etzion als „schlampig“ – er erinnere weniger an die Arbeit erfahrener Völkerrechtler, sondern an diejenige von Anwälten, die sonst mit der Errichtung von Briefkastenfirmen auf den Caiman-Inseln befasst seien. Demgegenüber beharrte Qasas darauf, dass der Trump-Plan eine positive Entwicklung in Gang gesetzt habe. Wir müssten uns damit abfinden, in einer neuen Ära des Transaktionalismus zwischen Supermächten zu leben. Die enge Beziehung zwischen den USA und Israel öffne sich gegenüber anderen Akteuren, die ihrerseits eigene Interessen verfolgten. Saudi-Arabien auf der einen Seite spreche sich für eine Zweistaatenlösung aus, Türkei und Katar auf der anderen sind für ihre Sympathien gegenüber der Hamas bekannt.
Deutschland, meint Qasas, müsse nun dringend eine vermittelnde Rolle spielen. Etzion ergänzte, Israels Nachbarn seien sich darüber einig, dass es ein Zurück zum 6. Oktober nicht geben könne. Auch er spricht von einer historischen Gelegenheit.
Schweigen als größtes Problem
„Man kann ein Volk nicht durch Bomben zum Verschwinden bringen. Man kann die Wahrheit nicht auslöschen“, sagte Ayman Odeh, dessen Rede sich anschloss. Der Knessetabgeordnete sitzt der Listenverbindung aus Kommunisten und moderaten arabischen Nationalisten, Chadasch-Ta’al, vor. Er zitierte aus der berühmten Rede von Rabbi Joachim Prinz beim Marsch auf Washington im Jahr 1963. Prinz, der aus Hitlerdeutschland fliehen konnte, hatte gesagt, damals seien für Juden weder Fanatismus noch Hass das drängendste Problem gewesen, sondern das Schweigen. „Schweigen, in die Sprache der Diplomatie verpackt“, warf Odeh auch der deutschen Regierung vor. Er kritisierte scharf die Aussage von Friedrich Merz, Israel mache „die Drecksarbeit für uns alle“. Der Kanzler hatte sich, das unterschlug Odeh, dabei allerdings auf den Militärschlag gegen den Iran bezogen.
Odeh forderte Deutschland auf, Palästina endlich als Staat anzuerkennen. Juden wie Palästinenser hätten ein Recht auf Selbstbestimmung: „Du kannst deinen Nachbarn nicht zerstören, ohne dich selbst zu zerstören.“ Es sei allerdings leichter, die andere Seite zu bekämpfen als die Extremisten auf der eigenen. Odeh sprach sich für eine starke jüdisch-arabische Partnerschaft aus, denn die beiden Völker teilten – „ob wir wollen oder nicht“ – ein Schicksal.
Wenig später erklommen der ehemalige palästinensische Außenminister Nasser al-Kidwa von der Fatah und der ehemalige israelische Ministerpräsident Ehud Olmert die Bühne. Beide werben seit einiger Zeit gemeinsam für eine Zwei-Staaten-Lösung, wobei al-Kidwa auch recht schnell eine führende Rolle für sich selbst in einem zukünftigen palästinensischen Staat ins Spiel brachte. Olmert, nicht weniger breitbeinig, sagte, der 7. Oktober sei das Ergebnis israelischer Selbstgefälligkeit und Arroganz gewesen: „Wo war die Armee?“
Das tiefer liegende Problem sei, dass Israel seinen einzigen Partner, die Palästinensische Autonomiebehörde, ignoriert habe. Olmert zeigte sich beschämt über die im Windschatten des Gazakriegs eskalierende Gewalt extremistischer Siedler. Es vergehe kein Tag, an dem nicht palästinensische Olivenhaine angezündet und in Häuser eingebrochen werde, Menschen bedroht und manchmal auch ermordet würden, während es der Polizei des Ministers Ben-Gvir angeblich nicht gelinge, die Täter zu finden.
Olmerts Einschätzung wurde später am Abend durch Ha’aretz-Reporterin Hagar Shezaf bestätigt, die von einer Arbeitsteilung von Siedlern und der Armee berichtete. Der bekannte israelische Menschenrechtsanwalt Michael Sfard bekräftigte, Siedlergewalt sei staatliche Gewalt. Angesichts des Gazakriegs bezeichnete Sfard die Israelis gar als Teil einer Mafia-Familie, die gemeinsam die Verantwortung für Kriegsverbrechen und einen Genozid in Gaza trage. Letzteres erstmals in einem Text für Ha’aretz zu formulieren, sei ihm sehr schwer gefallen.
Was in Deutschland oft nicht verstanden wird, ist die simple Tatsache, dass die meisten linken Kritiker der israelischen Politik, die in Ha’aretz schreiben, Zionisten sind, also das Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volks für selbstverständlich halten. Das mag auch der Grund dafür sein, warum der präzedenzlose Charakter des Gazakriegs auf der Konferenz nicht thematisiert wurde, weil er auch dessen schärfsten Kritikern bewusst ist. Noch nie musste ein angegriffenes Land einen Krieg gegen eine Terrororganisation führen, die für sich selbst Hunderte von Kilometern lange Tunnel unter einer Stadt gebaut hat und bekundet hat, dass eine möglichst hohe Zahl toter Zivilisten in Gaza Teil ihrer Strategie ist.
Daniel Gerlach, Chefredakteur des Magazins Zenith, erzählte in einer Diskussionsrunde über die schwierige Arbeit von Journalisten, er werde häufig von deutschen Kollegen gefragt, ob Ha’aretz eine seriöse Quelle und nicht vielleicht Hamas-nah sei. Das verwundert nicht, zeichnen sich nicht wenige selbsternannte Experten hierzulande durch eklatante Wissenslücken über die historischen Hintergründe und die politischen Verhältnisse in der Region aus.
Michael Sfard warf Deutschland vor, dem Internationalen Strafgerichtshof nicht genügend Rückendeckung angesichts der Angriffe Trumps auf das Gericht zu geben. Auch Franziska Brantner, Bundesvorsitzende der Grünen, kritisierte die Bundesregierung: Diese unterstütze die Vorschläge der EU nicht. Deutschland verliere international seine Glaubwürdigkeit, wenn es sich überall für Menschenrechte einsetze, nur nicht in Israel und Palästina.
Der Tag konnte wohl nicht zu Ende gehen, ohne dass noch eine Diskussion über Boykotte angezettelt worden wäre. Da hatte man einen Hinweis von Eva Illouz wohl schon vergessen oder aus Prinzip nicht zugehört: Man dürfe nicht außer Acht lassen, hatte Illouz eingangs gesagt, dass – trotz der überwältigenden militärischen Überlegenheit Israels – viele Israelis seit dem 7. Oktober Angst hätten.
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