Carolin Emckes Corona-„Journal“: Wie geht es uns, Frau Emcke?
Wie sinnlich kann eine Video-Lesung zu den psychischen Folgen der Pandemie sein? Carolin Emcke macht es mit ihrem Corona-Tagebuch vor.
Carolin Emcke ist nicht angereist. Sie sitzt an einem Tisch in Berlin und trinkt Tee. An diesem Abend, als die Inzidenzrate in München erneut über 100 liegt und eine nächtliche Ausgangssperre schon beschlossene Sache ist, wollen die Veranstalter des Abends mit Frau Emcke, das Literaturhaus und die Kammerspiele, kein falsches Zeichen setzen. Was sich für Livestream-Zuschauer intim anfühlt, bedauert die Protagonistin.
Drei Passagen liest sie aus ihrem „Journal“ (S. Fischer Verlag) vor. Am 23. März 2020 – einen Tag nach Beschluss der ersten Kontaktbeschränkungen – begann die Friedenspreis-Trägerin ihr Coronatagebuch. Theaterdramaturg Martin Valdés-Stauber fragt die Autorin: Welche Bilder werden ihr von der Zeit der Pandemie im Kopf bleiben? Keine persönlichen, antwortet sie, eher medial vermittelte. Etwa der Papst als „fast einsame Figur“ auf dem Petersplatz.
Oder Erfahrungen, „für die es kaum eine Sprache“ gebe, aus Altersheimen, von Krankheit und Tod: „Ich empfinde dieses Vakuum als Dissonanz“, sagt Emcke. „Wir sprechen die ganze Zeit übers Sterben, registrieren Todeszahlen, und es gibt trotzdem ausgesprochen wenig künstlerische Annäherung an die Erfahrung von Menschen, die jemanden verlieren und nicht hinkönnen.“
Sie berichtet über Beerdigungen im Bekanntenkreis, spricht vom „Improvisieren der Gesten der Trauer“. Tradierte Rituale, „von denen man sich sonst beschützt fühlt“, sind verboten. Sie müssen spontan ersetzt werden durch Handlungsformen, die Menschen in schweren Momenten neu und fremd sind.
Umgang mit Ängsten
Carolin Emcke spricht auch über den Umgang mit Ängsten – der Furcht vor Ruin, Tod oder Schuld, andere anzustecken. Gerade für Kinder könne die Sorge, dass „man gefährlich ist für andere“, eine prägende Erfahrung sein: „Ich bin nicht sicher, wie schnell sich das wieder abbauen lässt.“
Ältere fürchten den Verlust von unwiederbringlichen Erfahrungen, Lebenszeit sei schließlich „ein knappes Gut“. Emcke will eine solche Angst nicht per se entwerten und kritisiert die Politik: „Es braucht eine politische Form der Ansprache der Affekte, etwa der Angst vor Verlusten.“
Sie analysiert auch, wie die „globale Katastrophe“ zuerst als gemeinsames Problem erlebt worden sei. Später sei im Vergleich mit anderen Staaten so auch die Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung ausgedrückt worden. Der Neid, dass in Israel „besser geimpft“ würde, sei Ausdruck der „narzisstischen Kränkung“ Europas.
Carolin Emcke trägt an diesem Abend einen schwarzen Blazer und einen breiten Silberring am kleinen Finger. Das Licht ist gedämpft, rechts steht eine Teeflasche mit Stahlverschluss und Wärmeüberzug. Zunächst habe man gerade in der Bundesrepublik noch gedacht, privilegiert durch die Pandemie zu kommen. Einerseits. Andererseits habe es auf internationaler Ebene europäische Solidaritätsgesten wie eine „gemeinsame Verschuldung“ gegeben, als „herzzerreißende Bilder“ aus Spanien gekommen sind, sagt Emcke ernst.
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