CSD in Berlin: Wir müssen reden!
Die LGBT*-Bewegung befindet sich in einem Zustand der Zerfaserung und Ohnmacht – obwohl wieder Tausende auf die Straße gehen werden.
Drei Worte nur: Wir – sind – allein! Kürzer lässt sich das Lebensgefühl von Lesben und Schwulen, von Transgender und Bisexuellen in Berlin seit dem Anschlag von Orlando nicht beschreiben. Wir sind nicht sicher, nicht einmal in unseren Clubs, die noch immer unsere Schutzräume sind. Räume, die uns nicht vor Anschlägen schützen sollen, sondern vor einer Gesellschaft, die uns weiterhin zum Schweigen verurteilt, in die Anpassung zwingt, zur Maskerade treibt; die uns noch immer schrill findet, nicht bunt, die Vielfalt nicht wertschätzt – sondern toleriert.
Ein kleines Plakat auf einem noch kleineren Spontanmarsch durch Neukölln und Kreuzberg am Montag nach dem Anschlag brachte dieses Gefühl unserer Marginalisierung auf den Punkt: „Unsere Diaspora ist nicht eure Freiheit!“ Will heißen: Hört auf, uns zu vereinnahmen, uns zu missbrauchen für eure Selbstbeweihräucherung! Ihr seid nicht halb so offen, wie ihr tut!
Minderheiten haben ein Gespür für die „Brüchigkeit gesellschaftlicher Toleranz“, wie der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker den Zustand der deutschen Gesellschaft im Verhältnis zu ihren sexuellen Minderheiten beschreibt. LGBT*-Menschen leben selbst in Berlin allenfalls in einem „kündbaren Duldungsverhältnis“. Teile der liberal-konservativen Eliten haben diese Duldung bereits gekündigt.
Kampf um Sexualkunde
Sichtbar wird das vor allem im Kampf gegen den Sexualkundeunterricht der Vielfalt. Die von christlichen Fundamentalisten und völkischen Rechtspopulisten initiierte Desinformationskampagne gegen die Bildungspläne knüpft mit ihrer Lüge von der vermeintlichen Frühsexualisierung bewusst an überwunden geglaubte Schauermärchen von der Verführbarkeit zur Homosexualität an. Auch in Berlin drohten unter der Großen Koalition LGBT*-Inhalte, seit 2001 in den Rahmenlehrplänen, im vergangenen Jahr wieder herauszufallen. Nur mit Mühe verhinderten LGBT*-Gruppen damals einen Rollback.
Wir sind allein. Die Erkenntnis schmerzt umso mehr, als ihr eine zweite auf dem Fuße folgt: Wir sind fürs Alleinsein nicht gerüstet! Berlin ist ein hervorragendes Beispiel für diesen Mangel, der andernorts nur noch deutlicher zutage tritt. Auf den ersten Blick scheint die Berliner LGBT*-Bewegung vor Vitalität und Vielfalt nur so zu strotzen: Dutzende, ach, Hunderte Gruppen, Vereine und Verbände zu fast jedem erdenklichen Thema, vom offenen Gesprächskreis für Trans*-Eltern bis zum Stammtisch für behaarte Männer mit Übergewicht.
Doch auf den zweiten Blick ist die Stärke eher Ausdruck von Schwäche: Gut aufgestellt ist die Berliner LGBT*-Bewegung – wie überall in Deutschland – ausschließlich im Bereich der Selbsthilfe. Für fast alle von der Homo- und Transphobie, vom Rassismus und Sexismus der uns duldenden Gesellschaft geschlagenen Wunden haben LGBT*-Menschen in den vergangenen vierzig Jahren Versorgungsstrukturen geschaffen, meist in Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung, die den Verwundeten Trost, Zuspruch, Hilfe zukommen lassen. Das ist immens wichtig und nicht hoch genug einzuschätzen. Aber es täuscht immer weniger darüber hinweg, dass der „Community“ heute Entscheidendes fehlt, was eine politische Bewegung konstituiert:
Derzeit haben 22 Staaten der Erde, darunter die meisten westlichen Demokratien, das Rechtsinstitut der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Deutschland gehört nicht dazu. Hier gibt es die fälschlicherweise „Homo-Ehe“ genannte „Lebenspartnerschaft“, mit der viele, aber nicht alle Rechte der Ehe einhergehen. Der wichtigste Unterschied ist das fehlende gemeinsame Adoptionsrecht. Außerdem ist die Ehe ein international anerkanntes Rechtsinstitut, die Lebenspartnerschaft ein deutsches Sonderrecht.
Weltweit sehen LGBT*-Aktivist*innen den Kampf um die Öffnung der Ehe als wichtigstes, aber nicht einziges Element der Gleichheit für LGBT*-Personen vor dem Gesetz. In Deutschland sind CDU/CSU, AfD und katholische Kirche die wichtigsten Gegner dieser Rechtsgleichheit. (dil)
1. Die Fähigkeit, wenigstens untereinander eine gemeinsame Sprache zu sprechen, was uns spätestens im Streit um Queer-Theorie versus Identitätspolitik verloren ging.
2. Der Wille, politisch als Bewegung selbst zu agieren und zu gestalten und das nicht an Parteien zu delegieren, was mit dem Niedergang der autonomen Schwulenbewegung seit den Neunzigern so gründlich geschehen ist, dass wir heute weder über politische GrassRoots-Organisationen verfügen, noch über eine Führungsfigur, die nicht parteipolitisch gebunden ist.
3. Den nötigen Druck wieder aufzubauen, ohne den Politik – auch freundlich gesinnte – sich nicht bewegt, indem die LGBT*-Bewegung durch professionelle Kampagnenarbeit wieder mobilisierungsfähig wird. Und schlussendlich zu erkennen, dass es
4. Verbündete braucht, weil es notwendig ist, das eigene Ringen um Emanzipation in den gesellschaftlichen Kontext gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu stellen, denn wer zu Homo- und Transphobie spricht, kann zu Sexismus und Rassismus – auch in der eigenen Szene – schon aus Einsicht und Empathie nicht schweigen.
Über den Mangel tröstet und hilft seit Jahrzehnten ein in seiner Festtagsdichte und Prachtentfaltung fast schon katholisch zu nennender jahreszeitlicher Reigen aus Ritualen hinweg: IDAHOT, Kreuzberger CSD, Stadtfest, Pride Week und „großer“ CSD, Welt-Aids-Tag. Das Organisieren all dieser LGBT*-Hochämter frisst Jahr für Jahr einen nicht zu unterschätzenden Teil der gesamten Energie der verbliebenen Szene.
CSD: Kurz für „Christopher Street Day“. In dieser Straße in New York begann am 27. Juni 1969 mit einer Straßenschlacht gegen Polizeirazzien in der Schwulenbar Stonewall Inn die moderne LGBT*-Bewegung.
LGBT: Steht für „Lesbian, Gay, Bisexual & Transsexual/Transgender“. Das Kürzel ist der Versuch, verschiedene sexuelle Minderheiten zusammenzufassen, für die kein gemeinsames Wort existiert. Oft noch erweitert um I für Intersexuell, Q für Queer und ein *, um alle jene miteinzubeziehen, die sich von den vorhergehenden Buchstaben nicht inkludiert fühlen.
IDAHOT: Kurz für den „International Day Against Homo- and Transphobia“, der 17. Mai. An diesem Tag im Jahr 1990 strich die WHO Homosexualität aus der Liste der psychischen Störungen. (dil)
Die eigene Ohnmacht
Der Kampf um die wenigen Aktivist*innen für die vielen Standdienste und Ordnerschichten entbrennt schon Monate im Voraus. Dabei bleiben diese Veranstaltungen vor allem eine Bewegung um sich selbst herum, schiere Rückversicherung der eigenen Existenz. Und wer sich nicht einigen kann, feiert halt getrennt. Berlin ist schließlich groß genug.
Doch die Rituale der Selbstermächtigung enden zunehmend in der Selbstverpuffung. Die Suche nach einem alljährlichen CSD-Motto beschreibt nicht länger das Ringen um und den Kampf für politische Inhalte, sie ersetzt es: „Danke für nix“ lautet das Motto in diesem Jahr. Das soll kämpferisch klingen, offenbart aber vor allem die eigene Ohnmacht.
In einem Klima der Indifferenz konnte das noch gut gehen. In der Post-Orlando-Zeit reicht das nicht mehr. Die LGBT*-Bewegung muss Antworten geben: auf den gesellschaftlichen Stillstand, auf das Ausbleiben der Rechtsgleichheit, auf das Erstarken homo- und transphober Stimmungen bis hinein in die gesellschaftliche Mitte, auf das Sich-Ausbreiten rassistischer Ressentiments in den eigenen Lebenswelten. Dem Agenda-Setting der Rechten hat die LGBT*-Bewegung in ihrem jetzigen Zustand der Zerfaserung und Selbstbeschäftigung nichts entgegenzusetzen.
Wer in die Geschichte dieser Bewegung schaut, muss lange zurückgehen, um Parallelen zu finden, doch es gibt sie. Ende der siebziger Jahre befand sich die damalige Schwulenbewegung in einer ähnlichen Malaise. Zerrissen von inneren Streitigkeiten und angesichts des drohenden Zerfalls fanden sich Gruppen und Initiativen zum „Treffen der Berliner Schwulengruppen“, dem TBS, zusammen. Aus der Vernetzung entstand ein Professionalisierungsschub, das heute queere Monatsmagazin Siegessäule ist ebenso ein Ergebnis des TBS, wie die Beratungsstelle Mann-O-Meter.
Über die Gräben hinweg
Es wird höchste Zeit für die LGBT*-Bewegung heute, sich über die Gräben von queertheoretischen und identitätspolitischen Weltanschauungen hinweg im Hinblick auf politische Handlungsfähigkeit neu zu vernetzen, weniger übereinander und mehr miteinander zu reden. Es wird Zeit, den Blick in andere Städte und Länder zu richten, in denen es besser gelungen ist, LGBT*-Themen ins Zentrum politischer Debatten zu tragen, anstatt sie auf den Gedönslisten der Parteien unter dem Punkt Verschiedenes zu Grabe zu tragen.
Es wird Zeit, von neuem und mühsam den nötigen Druck der Straße zu organisieren, ohne den auch wohlmeinende Politiker*innen nicht in unserem Sinne handeln werden. Es wird Zeit, sich dem Rassismus und der Islamophobie auch unter Schwulen und Lesben entgegenzustellen und nicht aus Angst, man verlöre Mitstreiter, zu schweigen.
Frankreichs LGBT*-Gruppen etwa haben zu lange geschwiegen, im Ergebnis sympathisieren dort ein Drittel der schwulen Männer gegen ihre eigenen Interessen mit dem Front National. Im Gegensatz dazu sind nach Orlando in den USA muslimische Gruppen, Lati und LGBT*-Gruppen in dem Verständnis aufeinander zugegangen, dass Minderheiten sich nicht gegeneinander ausspielen lassen dürfen. Kurz: Es wird Zeit, die eigenen Kräfte radikal neu zu justieren. Denn wer selbst agiert, muss nicht „Danke“ sagen. Nicht einmal für nix.
Dieser Text ist Teil des aktuellen Wochenendschwerpunkts in der taz.berlin. Darin außerdem ein Interview und eine Kolumne zum Theme queere Community und CSD. Am Kiosk und in Ihrem Briefkasten.
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