Bundestagswahl und politische Kritik: Defätismus oder Barbarei

Die große Koalition kommt. Das AfD-Prinzip bleibt. Der Kapitalismus dominiert das Netz. Es ist trotzdem an der Zeit, sich vom Scheißefinden zu verabschieden.

Manches kann man drehen und wenden – es bleibt einfach Scheiße Bild: krebs / plainpicture

Alles Scheiße. Klar. Gestern, heute, morgen. Wird sich nicht ändern. Lässt sich nicht ändern. Der Kapitalismus unterwirft sich die Welt – politisch, ökonomisch, sozial, kulturell – jeden Tag ein Stückchen mehr. Auf 100 Jahre Helmut Kohl und das knapp zehnjährige Elend von Rot-Grün samt Kriegseinsatz und Hartz IV folgen nun 100 Jahre Merkel, für die nächsten vier Jahre wohl in einer großen Koalition.

Wir altlinken Defätisten – vom Herzenssozialdemokraten jenseits der SPD bis zum Autonomen und von der Anarchistin bis zur Freundin der Kritischen Theorie – glauben, schon jede politische Zumutung erlebt zu haben, und bevorzugten deshalb lange die Politik des kleineren Übels.

Große Koalition? Super! Das bedeutet Stillstand. Niemandem wird richtig wehgetan, die großen Parteien werden kleiner, die kleinen größer, sonst tut sich vier Jahre lang nichts. Überall Kompromisse. Stillstand in Deutschland ist gut. Besser jedenfalls als all die Scheiße, die im Bundestag und Bundesrat beschlossen wird, wenn keine Große Koalition regiert.

So sangen wir das Lob des Stillstands, ein schräges Lied, aber voller hübscher Synkopen und der Nationalhymnenscheiße in jedem Fall vorzuziehen. Es folgte Schwarz-Gelb. Wir Defätisten und unsere besten Freunde, die Griechen, merkten den Unterschied gleich. Wo Stillstand war, folgte Bewegung. Die Griechen traf der Schwung dieser neuen Bewegung mit voller Härte. Wir Defätisten tauchten, eskapistisch, wie wir sind, erstmal ab. Auch das war: Scheiße.

Kommerzscheiße

Auf die neue Große Koalition können wir linken Scheißefinder uns nicht mehr freuen, denn der Erfolg der AfD hat Folgen. Es geht nicht darum, ob die AfD in Parlamente einzieht oder nicht. Es geht ums AfD-Prinzip – Renationalisierung – und um die Versuche von der Union über SPD und FDP bis hin zur Linken, die AfD zu bremsen, indem man ihr Prinzip übernimmt. Renationalisierung bedeutet Barbarei. Der Nationalismus, von jeher der überflüssigste unter den Ismen, trifft in seiner neuesten Inkarnation auf eine Situation, in der Deutschland ohnehin Europa dominiert. Vielen in diesem Land reicht das aber immer noch nicht. Ganz große Scheiße.

Auch ein anderes kleineres Übel hat sich für uns kritische Defätisten erst mal erledigt. Das Internet erschien uns zwar zum größten Teil als hässlich, nutzlos und voller Irrer, aber eben nicht in Gänze. Es war auch ein Hort des Abseitigen.

Laut und deutlich waren hier die Stimmen anderer Scheißefinder zu vernehmen, und getrennt wie gemeinsam suhlten wir uns genüsslich in Blogs, Foren und Netzwerken in unflätigen Flüchen über das Immergleiche.

Das Internet von heute ist tatsächlich das geworden, was es von Anfang an werden sollte. Dank Facebook, Google und Amazon ist es ein digitales Abbild der kapitalistischen Totalität, eine quietschbunte, grellblinkende Warenwelt samt der hyperindividualistischen Fixierung Vieler, die sich freiwillig der Selbstvermarktung unterwerfen.

Spitzelscheiße

Die allgegenwärtige Datenspitzelei ist entweder nur ein hipper Metaaspekt von Post-Privacy oder eh nicht zu ändern und deshalb halb so wild. Man sieht: auch hier nur Scheiße.

Es reicht. So kann es nicht weitergehen. Wir affirmationsfeindlichen Scheißefinder haben, wenn es so kommt, wie es kommen muss, dank der nächsten Großen Koalition maximal vier Jahre Zeit zum Üben. Diese Zeitspanne muss kürzer ausfallen, so lange können unsere griechischen Freunde, die wir einst im Stich ließen, nicht mehr warten.

Also: Scheißefinden ist fortan Scheiße. Defätisten aller Länder, vereinigt euch! Außer- und innerhalb von Parlamenten. Bildet Gewerkschaftsbanden! Unterwandert Grüne und SPD! Tretet in die Linke ein, in Attac auch, gründet neue marxistische und poststrukturalistische Salons. Lasst keine soziale Bewegung, keinen kritischen Zwischenruf aus. Alles ist besser, als nur zuzusehen, um dann bloß wieder vor der alten Scheiße zu stehen.

Wir wollen endlich neue Scheiße.

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