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Foto: Kay Nietfeld/dpa

Bundestagspräsidentin Julia KlöcknerWen sie zur Ordnung ruft

Sie will zum CSD keine Regenbogenflagge hissen und vergleicht die taz mit Nius – aber warnt vor Polarisierung. Ist das Widerspruch oder Strategie?

Sabine am Orde

Von

Sabine am Orde aus Berlin

E s ist Anfang Oktober, als ausgerechnet Julia Klöckner mehr Sachlichkeit in der Politik anmahnt. Sie soll an diesem regnerischen Mittwochabend bei der Konrad-Adenauer-Stiftung eine Keynote halten, der Titel: „Herausforderungen der Demokratie von innen und außen.“

Also steht Klöckner um kurz nach sechs mit dem Tablet in der Hand am Redepult, der Saal ist brechend voll, hinter ihr purzelt in grellen Farben der Schriftzug „Welt in Unordnung?!“ durcheinander, das Thema der Tagung. „Wenn in Debatten nur zählt, wer die Aufregungsdebatte am schnellsten hochtreibt, dann hat es die Demokratie schwer“, sagt Klöckner. „Wenn emotionale Bekenntnisse das sachliche Argument ersetzen, dann hat es die Meinungsfreiheit schwer.“ Wer wollte da widersprechen?

Die Frage ist nur: Treibt Julia Klöckner die Aufregungsdebatte nicht selbst hoch? Heizen ihre strenge Art im Bundestag und ihre Einlassungen anderswo die Polarisierung innerhalb und außerhalb des Plenums nicht weiter an? Verstärkt Klöckner also nicht, was sie angibt, bekämpfen zu wollen? Und: Macht Klöckner das bewusst, hat sie also, wie manche meinen, eine rechte Agenda?

Sie setzt auf Regeln, Strenge und das, was sie Neutralität nennt

Julia Klöckner, 52, ehemalige Landwirtschaftsministerin und Ex-Vizechefin der CDU, ist seit einem guten halben Jahr Präsidentin des Deutschen Bundestags. Es ist das zweithöchste Amt im Land, formal steht sie über dem Kanzler. Klöckner hat das Amt in einer herausfordernden Zeit übernommen. Weltweit steht die Demokratie unter Druck, in vielen Ländern greifen radikal rechte Parteien die Parlamente an, auch von innen heraus. Im Bundestag sitzen 151 AfD-Politiker*innen, das ist fast ein Viertel der Abgeordneten. Es sind mehr als von der SPD und auch mehr als von Grünen und Linken zusammen. So groß wie jetzt war der blaue Block noch nie, so selbstbewusst und laut auch nicht.

„Ich habe den festen Willen, die mir übertragene Aufgabe stets unparteiisch, unaufgeregt und auch unverzagt zu erfüllen – klar in der Sache, aber zugleich verbindend im Miteinander“, sagte Klöckner in ihrer Antrittsrede Ende März. Seitdem setzt sie auf Regeln und Strenge und das, was sie Neutralität nennt. „Neutralität heißt, dass jeder Abgeordnete als frei gewählter Abgeordnete die gleichen Rechte und Pflichten hat“, sagt sie bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Da müsse man den Wählerwillen schon akzeptieren. Aber kann man einen Abgeordneten der Partei, die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft worden ist, mit den anderen gleichsetzen, nur weil auch er demokratisch gewählt worden ist?

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Klöckner greift durch, vor allem gegen die AfD, aber auch gegen die Linken. 23 Ordnungsrufe hat das Präsidium in der Legislaturperiode bisher verhängt, das sind deutlich mehr als zuvor. 20 davon gingen an die AfD, drei an die Linkspartei. Gleich zu Beginn ihrer Amtszeit bekam die AfD einen Ordnungsruf für den Begriff „Kartellparteien“. Eine Linken-Abgeordnete schmiss Klöckner aus dem Saal, weil sie ein T-Shirt mit der Aufschrift „Palastine“ trug. Gerügt hat Klöckner bereits Abgeordnete aus allen Fraktionen, heißt es im Bundestag. Nur aus der eigenen nicht.

Sobald Abgeordnete ihre Redezeiten überziehen, fällt Klöckner ihnen ins Wort, meist zunächst mit einem entschiedenen „Danke“. Anstecker mit politischen Botschaften dürfen im Plenum grundsätzlich nicht getragen, Laptops mit politischen Aufklebern nicht genutzt werden. Auch ist untersagt, in öffentlich zugänglichen Gebäudeteilen des Bundestags politische Plakate oder Aufkleber zu platzieren, und wenn sie von außen durch die Fenster sichtbar sind, gilt das auch für die Büros der Abgeordneten. Das hat dazu geführt, dass die Bundestagspolizei zuletzt dafür sorgte, dass Regenbohnenfahnen aus Abgeordnetenbüros verschwanden. In der AfD-Fraktion sollen sich manche damit brüsten, diese Einsätze durch Meldungen ausgelöst zu haben, eine offizielle Bestätigung gibt es dafür aber nicht.

Klöckner polarisiert

Foto: Michael Kappeler/dpa

Für Aufregung sorgte Klöckner zudem mit ihrer Entscheidung, am Christopher-Street-Day die Regenbogenfahne auf dem Reichstag nicht zu hissen, und mit ihrem Vergleich der taz mit dem rechten Propagandaportal Nius. „Alle müssen neutral sein, nur Klöckner darf rechts sein“, schimpfte der ehemalige Wirtschaftsminister Robert Habeck später. Die linke Fraktionschefin Heidi Reichinnek legte Klöckner den Rückzug nahe. Beide sind der Ansicht, dass diese für ihren Posten nicht geeignet ist.

Glaubt man Stimmen aus dem Bundestagspräsidium, aber läuft es dort trotz einiger Meinungsverschiedenheiten nicht schlecht. „Wir sind ein kollegiales Gremium, das über Parteienpolitik steht. Das ist eine schöne Zusammenarbeit“, sagt Andrea Lindholz, die Vizepräsidentin von der CSU. Gemeinsames Ziel sei es, Ordnung zu halten, aber nicht zu streng zu sein. Das sei manchmal gar nicht so leicht. Dass die CSU-Frau Klöckner nicht öffentlich kritisiert, ist wenig überraschend. Aber auch Bodo Ramelow, der Vizepräsident von den Linken, spricht über Klöckner nicht schlecht. „Julia ist eine gute und konstruktive Kollegin, die das Team zusammenhält“, sagt Ramelow, der Klöckner schon lange kennt. Er habe ein anders Bild von ihr, als das, was in der Öffentlichkeit von ihr gezeichnet werde. „Aber das hat sie natürlich mitgeprägt.“

In der Opposition hat Klöckner als wirtschaftspolitische Sprecherin den damaligen grünen Minister Robert Habeck fast pausenlos attackiert. Mal bezeichnete sie ihn als „Bundes-Schamanen“, mal warf sie ihm vor, deutsche Firmen gingen seinetwegen pleite oder ins Ausland. Sie kann scharf und populistisch sein, im Wahlkampf postete sie: „Für das, was ihr wollt, müsst ihr nicht die AfD wählen. Dafür gibt es eine demokratische Alternative: die CDU.“ Das hat sie später gelöscht. Auf Instagram hat Klöckner inzwischen zwei Kanäle, einen als Abgeordnete, einen als Präsidentin, beide werden munter bespielt. Auf dem ersten teilte sie auch einen Post, der einen Auftritt von Friedrich Merz im ZDF feierte. „Merz macht Dunja Hayali fertig“, hieß es da freudig zustimmend mit Blick auf einen Dialog zwischen Kanzler und Moderatorin. Nicht gerade das sachliche Argument, das Klöckner an anderer Stelle einfordert.

Zu sehr „Vollblutpolitikerin“ für ihren Posten?

Klöckner mag die Bühne, in bunten Outfits, gut frisiert und auf Highheels setzt sie sich gerne in Szene. Dass die Rheinland-Pfälzerin Volksnähe kann, das bescheinigen ihr selbst ihre Gegner*innen. Eins ist klar: So sichtbar wie jetzt war das zweithöchste Amt im Staat noch nie.

Manche befürchten, Klöckner beschädige dieses so. In Zeiten, in denen die Demokratie unter Druck stehe, seien Klöckners Inszenierungen eine Gefahr. Andere argumentieren, dass man moderne Methoden brauche, um die Bür­ge­r*in­nen heute für Parlament und Politik zu gewinnen. Viele sind hin- und hergerissen.

„Julia ist eine Vollblutpolitikerin“, sagt eine Christdemokratin, die Klöckner schon lange kennt. Das klingt nach Anerkennung. Aber eben auch nach der Frage, ob sie die richtige für den Posten der Bundestagspräsidentin ist. Sollte nicht das Amt im Vordergrund stehen? Bei Julia Klöcker geht es aber immer auch um sie selbst.

Anstecker-Verbot im Plenum: Beim Gedenken an den Völkermord von Srebrenica ging es gründlich schief

Die Regeln, die sie im Bundestag nun so konsequent durchsetzen lässt, sind nicht neu. Das Plakatverbot etwa brachte Wolfgang Schäuble, Christdemokrat wie sie, auf den Weg, nachdem die AfD in den Bundestag eingezogen war. Schäuble und die anderen Vor­gän­ge­r*in­nen setzten dies ruhig und mit Augenmaß durch. Sticker wie die rote Schleife als Zeichen für die Solidarität mit HIV-Infizierten und Aidskranken ließ man ebenso durchgehen wie die gelbe nach dem Massaker der Hamas. Manchmal schickte man einen Saaldiener los, um einen Abgeordneten zu bitten, etwas zu entfernen. Manchmal winkte man deshalb einen der Parlamentarischen Geschäftsführer zu sich, damit dieser an die eigenen Abgeordneten appelliert. Die offene Ansage, das war die Ausnahme. Bis Klöckner kam.

„Gut gemeint, aber nicht durchhaltbar“, sei ihr Versuch gewesen, alle Anstecker im Plenum zu verbieten, sagt Bodo Ramelow. Gründlich schief ging das bei der Aussprache zum Jahrestag des Völkermords von Srebrenica. Den Antrag, an diesem Tag das Tragen der weißen Blume zu erlauben, lehnte Klöckner ab. Die Blume ist das internationale Zeichen des Gedenkens an den Genozid. Selma Jahić, die als Kind dem Völkermord entkommen war und auf der Ehrentribüne der Debatte folgte, wurde von einem Mitarbeiter des Bundestags erst aufgefordert, die Blume abzunehmen, später durfte sie sie dann doch tragen. Ein Angriff auf ihre Gedenkkultur sei das gewesen, kritisierte Jahić später auf Bluesky. Auch zahlreiche Abgeordnete, darunter der SPD-Außenpolitiker Adis Ahmetović, trugen die Blume und widersetzten sich damit Klöckners Anordnung. Währenddessen verharmloste der AfD-Abgeordnete Martin Sichert in seiner Rede den Genozid.

Foto: Achille Abboud/imago

Irene Mihalic ist Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag, sie kennt sich mit den Regeln im Bundestag aus. Nach der Debatte um Srebrenica schrieb sie Klöckner einen Brief. „Wir haben Ihnen schon in einigen Zusammenhängen unsere Einschätzung mitgeteilt, dass kleinteilige Ansagen und Direktiven wie diese eher einen Kulturkampf triggern, als zu einer Konzentration auf die Debatte mit Rede und Gegenrede führen“, hieß es darin. Doch die Präsidentin lenkte nicht ein.

Kritik an Merkels Migrationspolitik, Unterstützung für Merz von Anfang an

Bevor Julia Klöckner Anfang Oktober in der Konrad-Adenauer-Stiftung auf die Bühne steigt, wird sie von Norbert Lammert eingeführt, dem Stiftungspräsidenten. Lammert war von 2005 bis 2017 Bundestagspräsident. Hört man sich im Parlament zu diesem Amt um, wird oft auf ihn verwiesen – als positives Gegenbeispiel zu Klöckner. Lammert habe gezeigt, wie man mit präzisen Worten und etwas Ironie den Bundestag souverän leiten könne.

Regeln durchzusetzen sei „nicht immer gemütlich“, sagt Lammert und spricht Klöckner direkt an: „Dass deine erkennbare Entschlossenheit genau das zu tun, nicht nur von stürmischer Begeisterung begleitet wird, wird dich hoffentlich nicht entmutigen, sondern eher in dem Verdacht bestätigen, dass dies ein besonders sensibler Punkt sei, der deswegen besondere Aufmerksamkeit erfordert.“ Wie so oft bei Lammert, der Kritik an den eigenen Leuten nie scheute, könnte dies eine doppelbödige Aussage sein: eine Ermunterung für Klöckner am Ball zu bleiben, aber auch, sensibel damit umzugehen.

Julia Klöckner ist als ehemalige Weinkönigin belächelt worden, dabei ist sie ein politischer Vollprofi. Auf einem Weingut in Rheinland-Pfalz aufgewachsen, studierte sie Politikwissenschaft, katholische Theologie und Pädagogik, arbeitete als Lehrerin und Journalistin. 2002 zog sie in den Bundestag ein, gemeinsam mit dem heutigen Fraktionschef Jens Spahn und CSU-Politiker Alexander Dobrindt, der nun Innenminister ist. Alle drei tickten wirtschaftsliberal und gesellschaftspolitisch konservativ.

Zweimal hat Klöckner versucht, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz zu werden, und scheiterte. Beim zweiten Mal gab sie der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel die Schuld, von der sie sich distanziert hatte. Sie schlug damals in Abgrenzung zu Merkel einen „Plan A2“ vor, ein Plan B schien ihr wohl zu gewagt. Trotzdem landete sie, gemeinsam mit Spahn, in Merkels letztem Kabinett, als Landwirtschaftsministerin. Aus dieser Zeit stammt das legendäre Video mit Nestlés Deutschlandchef, in dem sie das umstrittene Unternehmen anpreist.

Klöckner hat Friedrich Merz von Anfang an unterstützt, möglicherweise hat sie dieser Loyalität ihren Posten zu verdanken. Vielleicht auch dem Gedanken, dass man eine Ministerin aus dem altem Merkel-Kabinett im neuen nicht will.

Die Sache mit der Regenbogenflagge

Noch mehr als im Plenarsaal polarisiert Klöckner außerhalb. Kaum im Amt hat sie die Kirchen in einem Interview aufgefordert, sich mit tagespolitischen Äußerungen zurückzuhalten. Sie hat verhindert, dass es in der Maskenaffäre um den ehemaligen Gesundheitsminister Spahn schnelle Sondersitzungen der zuständigen Bundestagsausschüsse gab, wie es die Grünen beantragt hatten. Dann hat sie nicht nur untersagt, auf dem Bundestag am Christopher Street Day die Regenbohne zu hissen. Auch durfte das queere Regenbogennetzwerk des Bundestags nicht an der Parade teilnehmen, dabei war es nach eigenen Angaben dessen Gründungsidee, den Bundestag als vielfältigen Arbeitgeber zu präsentieren. Weil dieser die Charta der Vielfalt unterschrieben hat, wollte das Netzwerk am Diversity-Tag Ende Mai einen Infostand in der Halle des Paul-Löbe-Hauses aufstellen. Auf den Antrag dafür, berichten Mitglieder, habe man von der Präsidentin keine Antwort bekommen. In der Häufung der Ereignisse fragt man sich schon, was genau dahinter steckt.

Die radikale Rechte greift weltweit queere Politik und Frauenrechte an, sie nutzt dies ganz bewusst als Schanier in konservative, christdemokratische Parteien und deren Klientel hinein. Klöckner hätte die Flagge einfach hissen und das Thema vorbeiziehen lassen können, sagt eine Christdemokratin. Aber Klöckner hat es auf die Tagesordnung gesetzt. Und damit den Kulturkampf weiter befördert.

Öffentlich betont sie gern, dass der Bundestag ja am internationalen Tag gegen Homophobie die Regenbogenfahne gehisst habe und argumentiert mit dem Flaggenerlass, der noch von SPD-Innenministerin Nancy Faeser stamme: „Nur einmal im Jahr wird die Regenbogenfahne gehisst.“ Eine konkrete Zahl aber steht nicht in diesem Erlass. Dort heißt es lediglich, dass sich das Hissen der Regenbogenflagge auf einen konkreten Termin beziehen müsse. Sonst hätte Bärbel Bas, Klöckners Vorgängerin, auch gegen Faesers Erlass verstoßen. Bas hisste zweimal im Jahr.

Ein Besuch beim Nius-Financier, die Hufeisentheorie und der Vorwurf, die Polarisierung selbst voranzutreiben

Nachdem sie die taz mit Nius verglich, ließ Klöckner ihr Wahlkreisbüro dementieren, dass sie bei jenem CDU-Sommerfest in Koblenz einen „direkten Vergleich“ gezogen habe. So hat es der Branchendienst Kress recherchiert. Das Fest fand auf dem Firmengelände des Unternehmers Frank Gotthardt statt, der Nius mit finanziert und den Klöckner lange kennt. Sie hatte in ihrer Rede gesagt, das ist in einem Beitrag des SWR auch zu sehen, taz und Nius seien in den Methodik „nicht so sehr unähnlich“ – was man einen direkten Vergleich nennen kann. Klöckner ist früher schon damit aufgefallen, es nicht immer so genau mit der Wahrheit zu nehmen. Manche sagen, sie sei eben impulsiv, andere meinen, das habe Methode. Die taz hätte Julia Klöckner zu all dem gerne selber befragt, aber diese ließ eine Absage ausrichten. Keine Zeit, wochenlang.

Klöckners Vergleich hat der taz viel Solidarität eingebracht, Omid Nouripour, ihr grüner Vize, kam sogar extra zu einem Redaktionsbesuch. Bodo Ramelow sagt, öffentlich kritisiere man sich nicht, aber intern tausche man sich schon aus. Über den taz-Nius-Vergleich etwa habe es eine Debatte untereinander gegeben.

Klöckner spricht selten von Rechtsextremisten allein, obwohl diese laut Verfassungsschutz die größte Gefahr darstellen. Meist führt sie Extreme von rechts und links gleichermaßen an. „Die Extreme ernähren einander“, sagte sie jüngst der Zeit, häufig spricht sie von „den Rändern“.

Anruf bei Thomas Biebricher, der Politikprofessor von der Uni Frankfurt forscht seit Langem zum Konservatismus und wie dieser in die Krise kam. „Julia Klöckner verkörpert die Hufeisentheorie, sie hat sie zu ihrem Markenzeichen gemacht“, sagt Biebricher. „Dadurch, dass sie gegen AfD und Linke gleichermaßen austeilt, wird die Union wie von selbst in der Mitte verortet, ohne dass diese sagt, wofür sie eigentlich steht. Das ist wichtig für die CDU, weil es die eigene Daseinsberechtigung erklärt.“ Problematisch sei das auch deshalb, weil die Union über kurz oder lang mit einer der beiden Parteien werde zusammenarbeiten müssen. Vielleicht schon im kommenden Jahr nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt.

Eine der schärfsten Kri­ti­ke­r*in­nen von Klöckner ist Ricarda Lang, die ehemalige Grünen-Chefin. Sie hat Klöckner in einem Podcast als „Polarisierungsunternehmerin“ bezeichnet. Klöckner führe „Empörungs- und Symboldebatten“, um die realen Probleme vieler Menschen kümmere sie sich nicht. „Diese Symboldebatten spalten uns nicht nur innerhalb des demokratischen Systems, sondern durchaus auch als Gesellschaft.“

Feminismus-Kritik aber Frauenquote in der Union und Kinder im Plenarsaal

Klöckner sieht nicht nur bei Linken rot, sondern auch, wenn sie über Feminismus spricht. An jenem Abend bei der Konrad-Adenauer-Stiftung sagt sie, die „großen Feministinnen und Menschenrechtler“ würden „kippen“ und „sofort anfangen zu relativieren“, wenn es um die Vergewaltigungen der Hamas vom 7. Oktober gehe. Pauschal, ohne Beispiel, das ihre Unterstellung belegt. Ähnliche Einlassungen gibt es von Klöckner zuhauf.

Auf die ihr eigene Art setzt sich Klöckner aber für Frauen durchaus ein. Beim CDU-Parteitag vor drei Jahren in Hannover hat Klöckner die Debatte über die Einführung einer parteiinternen Frauenquote gedreht. Eine junge Frau nach der anderen war ans Redepult getreten und hatte argumentiert, dass es eine Quote nicht braucht. Die Stimmung im Saal war eher gegen die Einführung. Bis Klöckner ans Mikrofon schritt. „Merkt Ihr nicht, was hier läuft?“ rief sie in den Saal. Das „Schenkelklopfen“ der Männer über die jungen Frauen, die keine Quotenfrauen sein wollten, habe sie satt – und das Gegeneinanderausspielen von Frauen auch. Klöckner nahm den Saal mit und hat damit Merz, der sich zähneknirschend für die Einführung ausgesprochen hatte, vielleicht vor der ersten Niederlage als Parteichef bewahrt.

Auch die grüne Hanna Steinmüller kann Klöckner einiges abgewinnen. Steinmüller ist die junge Bundestagsabgeordnete, die damit Furore machte, dass sie vor Kurzem im Bundestag sprach, während ihr Baby vor ihrem Bauch schlief. „Früher musste man einen guten Grund anführen, warum man kleine Kinder mit in den Plenarsaal nehmen will. Bei Klöckner geht das einfach. Das erleichtert den Alltag“, sagt Steinmüller. Auch habe Klöckner junge Eltern zu einem Austausch darüber eingeladen, was helfen könnte, um Elternschaft und Abgeordnetentätigkeit besser zu vereinbaren. „Das habe ich vorher nicht erlebt.“ Politisch, sagt Steinmüller, stehe sie völlig woanders als Klöckner und kritisiert, wenn diese linke und rechte politische Positionen gleichsetze. Wie Klöckner die Sitzungen leite und die AfD in ihre Schranken weise, aber findet Steinmüller gut. „Der Bundestag soll schließlich stilbildend für den Rest der Gesellschaft sein.“

Julia Klöckner ist als Bundestagspräsidentin seit Ende März im Amt. Sie wurde mit 62 Prozent der Stimmen gewählt, dem schlechtesten Ergebnis, das es in diesem Amt bislang gab. Viele Abgeordnete waren skeptisch, ob die Parteipolitikerin, die scharf und polemisch gegen die Ampel vorging, die spaltete und polarisierte und Kulturkampf nicht scheute, den Sprung zur Parlamentspräsidentin überhaupt schaffen kann. Überparteilichkeit und Ausgleich, das waren bisher nicht Klöckners Stärken. Bislang ist ihr dieser Rollenwechsel nicht gelungen, zumindest nicht ausreichend. Ob das so bleibt? In ein Amt kann man hineinwachsen, einen Kurs kann man korrigieren. Allerdings muss man es dafür auch wollen.

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