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Bundesparteitag der GrünenFür ein Leben vor dem Schnitzel

Die Grünen beerdigen den Veggie Day und nutzen die Debatte zur Kursbestimmung: Wie moralisierend, wie liberal, wie industrienah wollen sie künftig sein?

Stimmkärtchen gegen das Verbotsimage. Bild: dpa

HAMBURG taz | Um kurz vor neun ist das erste Ziel erreicht. Eine Idee ist mit allen Ehren beerdigt. Eine Idee von der im Wahlkampfsommer 2013 wohl niemand geglaubt hätte, dass sie die Grünen so lange umtreiben würde.

Die Mehrheit der Delegierten beim Bundesparteitag in Hamburg hat einen Satz abgesegnet, der banal klingt, doch einen monatelangen Findungsprozess der Partei zusammenfasst: „Ob jemand am Donnerstag Fleisch isst oder nicht, ist uns herzlich egal."

Die Abstimmung um diese Überreste des Veggie Days fällt knapp aus, zur Sicherheit werden die Delegierten ein zweites Mal um ihr Handzeichen gebeten. Wer hätte das gedacht, nach so vielen öffentlichen Abbitten der Parteiführung von jenem fleischlosen Donnerstag in Kantinen, für den die Grünen in ihrem Programm zur Bundestagswahl 2013 geworben hatten.

„R.I.P. Veggie Day" morst ein Landeschef der Grünen erleichtert auf Twitter. Mehr als ein Jahr ist vergangen, seit die Bild-Zeitung den Veggie Day im Wahlkampf groß gemacht hatte. Längst ist der Gemüsetag zu einem Platzhalter geworden für viel grundsätzlichere Fragen bei den Grünen - nach der richtigen Haltung, Tonlage, Stoßrichtung.

Das F-Wort macht die Runde

Auch wenn die ganz große Richtungsdebatte zum Beginn des Parteitags ausfällt, weil sich die hessischen Realos mit dem Rest der Partei auf ein Konsenspapier verständigen, demonstriert die Aussprache, wie stark der Diskussionsbedarf der Partei ist, ein Jahr nach ihrem schwachen Abschneiden bei der Bundestagswahl. Als „Verbotspartei" angegriffen, haben die Grünen sich als „Freiheitspartei" wiederentdeckt. Das F-Wort geistert in großer Stückzahl durch Papiere und Reden - auch beim Bundesparteitag in Hamburg.

Freiheit heiße eben nicht, den Menschen vorzuschreiben, wie sich zu ernähren hätten, sagt Parteichef Cem Özdemir schon in der Eröffnungsrede. „Wir Grünen sind ganz sicher nicht die besseren Menschen", auch wenn sie sich manchmal so gebärdet hätten. Natürlich wolle seine Partei auch weiterhin die Agrarwende. „Für jedes Schwein", ruft Özdemir, „muss es ein Leben vor dem Schnitzel geben." Aber das könne man auch erreichen, ohne den Leuten Vorschriften zu machen.

Andere Spitzen-Grüne beichten an diesem Freitag demonstrativ auf der Parteitagsbühne: Sie äßen ihren Liebsten die Schokolade weg, die Kinder bekämen zum Frühstück Nutellabrot. Das klingt lächerlich, doch dass die Freiheitsdebatte tatsächlich an entscheidende Fragen rührt, wird spätestens klar, als der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs ans Mikro tritt.

Widerspruch zu Kretschmann

Kretschmann zitiert die Philosophin Jeanne Hersch: „Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung." Ein Satz, wie aus dem grünen Poesiealbum. Doch dann kommt er auf die Grünen als „Wirtschaftspartei" zu sprechen. Die Politik, sagt Kretschmann, müsse einen Ordnungsrahmen für soziales und ökologisches Wirtschaften setzen. Aber die Partei solle endlich loskommen vom „Sound" der Bevormundung - auch gegenüber der Industrie. „Wir müssen den Unternehmen nicht dauern beibiegen, was grün ist", warnt der Ministerpräsident. „Doch!", brüllt jemand aus dem Saal.

Wie soll sich die Partei zu den Konzernen stellen? Die Frage ist immer noch hochumstritten. Der Konter folgt prompt. „Heillos naiv" sei Kretschmanns These von den grün umgepolten Unternehmen, entgegnet der Bundestagsabgeordnete Sven Kindler. Porsche oder Monsanto seien für ihn keine Partner. „Diese Unternehmen denken nicht grün und handeln nicht grün". Deshalb seien die Grünen auch „keine klassische Wirtschaftspartei". Das gibt Applaus.

Moralische Überheblichkeit

Hinten im Saal widerspricht auch der Europaabgeordnete Sven Giegold dem Ansatz Kretschmanns. Fast alle großen Erfolge hätten die Grünen gegen die Wirtschaft erstritten, sagt er. Kretschmann wolle möglichst wenig Widerspruch zur Industrie. Das hält Giegold für fragwürdig: „Man darf als Grüner sehr wohl deutlich sagen, dass wir dabei sind, den Planeten zu Grunde zu richten."

Irgendwann tritt auch Robert Habeck vor den Saal, der stellvertretende Ministerpräsident Schleswig-Holsteins. Es wird der erstaunlichste Auftritt dieses Abends. Denn was Habeck den lieben Parteifreunden sagt, hat das Zeug zum kleinen Affront. Die Grünen sollten jetzt bitte auch nicht alle politischen Forderungen „unter das Label der Freiheit pressen", warnt er. Sonst erreiche man am Ende schon wieder das Gegenteil dessen, was man wolle - und komme als überheblich rüber.

Schließlich hätten die Grünen als Partei einen „gewissen Hang zur moralischen Überheblichkeit und Impertinenz". Das sei charakteristisch für Minderheiten. Aber die Grünen seien in vielen Bundesländern doch längst Regierungspartei, in ganzen Politikbereichen „hegemonial". Deshalb, ruft er in die Halle, könne die Partei „von mir aus aufhören, darüber zu reden". Man müsse wieder „weg vom kleinen Karo". Auch die Anträge zur Freiheitsdebatte zeigten doch: „Wir sind damit durch!" Jetzt jubeln ihm viele Basis-Grüne zu. Endlich, endlich hat es einer gesagt.

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11 Kommentare

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  • Ist nun die Hof Berichterstattung vor bei? Endlich wieder Platz für Wichtiges?

     

    Kommt nun ein Bericht zu Frau Hendix und Fracking?

     

    Oder kneif die TAZ weiterhin?

  • Man weiß, dass das Privatvermögen der Deutschen mehr als 8 Billionen Euro beträgt. Das kann die Bundesbank noch ausrechnen. Aber wer sie hat? Große Sendepause. Denn eine Vermögenssteuer gibt es in Deutschland ja nicht – und also auch keine Vollerhebung. Die reichsten Haushalte werden nicht befragt und nicht erfasst. Was wiederum dazu führt, dass Billionen aus der Statistik verschwinden. Nicht Milliarden, Billionen. Es gibt nur Anhaltspunkte, und sie sind erschreckend: Die reichsten 10 Prozent der Deutschen dürften über zwei Drittel des Volksvermögens verfügen. Mindestens. Wahrscheinlich ist es noch krasser.

    Für die Vermögenden ist es praktisch, dass niemand weiß, wie reich sie wirklich sind. Mühelos können sie sich arm rechnen und damit jede zusätzliche Belastung abwehren. Mit diesem Trick waren sie überaus erfolgreich: Die Dauerklage hat dazu geführt, dass der Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt wurde, dass milliardenschwere Familienunternehmen faktisch steuerfrei vererbt werden können und dass Kapitalerträge nur noch mit 25 % belastet werden, während viele Arbeitnehmer deutlich höhere Sätze zahlen. Dieser Wahnsinn hat übrigens einen Namen: Die SPD hat diese Korrektur überhaupt erst möglich gemacht. Auch die Grünen neigen nicht zur Selbstkritik. SPD und Grüne tun noch immer so, als sei es ein bedauerlicher Zufall, dass ausgerechnet seit 2000 Reichtum und Armut in Deutschland so stark auseinander driften und die Mittelschicht schrumpft. Es war auch ihre Politik.

    • 1G
      10236 (Profil gelöscht)
      @Willi:

      Die 30% der Nichtwähler bei der letzten Bundestagswahl rekrutieren sich höchstwahrscheinlich zu 2/3 aus den 40% der Bevölkerung, die über kein nennenswertes Vermögen verfügen.

      82-79-77-70 - %-Zahlen für die letzten 4 Bundestagswahlen. Ich vermute, dass wenn manche SPD, Grüne und vielleicht auch CDU ausprobiert haben und feststellen mussten, besser wird's für mich nicht, dann lassen Sie's sein.

      Den Parteien (auch den Grünen) sind die Nichtwähler mittlerweile herzlich egal.

      Im 19 Jh. durften menschen ohne Vermögen meistens nicht wählen, somit sind wir mittlerweile fast bei der Vermögensvertelung des 19. Jh. angekommen v.a. aber bei seiner Rolle für Machtausübung (v.a. medial) und politische Entscheidungen. Die Bedenken der Politik, sich dem Primat der Wirtschaft unterzuordnen, gibt es mittlerweile überhaupt keine. Die Bedenken der Politiker, sich von derselbigen evtl. kaufen zu lassen, werden auch geringer, nachdem die Schröder-Truppe den Weg aufgezeigt hatte.

  • Das mit dem Profil und der Unkenntlichkeit würde ich unterschreiben. Ob Herr Kretschmann in BaWü (vor der Wahl und nach der Wahl 2011) oder die Damen und Herren im Bund. Eine über 30-jährige Bewegung wird vom "Realismus des neoliberal kamarillierten Mainstream" aufgefressen. Da sind die Grünen wohl auch schon so gut wie auf den "alternativlosen Zug" der Groko(tze) aufgesprungen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

  • Vorab: Es ist allerhöchste Zeit dass Merkel (und alles Merkelartige) vom Wähler ins ewige Dunkel unschöner Vergangenheit geschickt wird.

     

    Was die Grünen sich aber - in einem Fall(!) - mal besser von dieser Muster-Politikerin abgeschaut hätten ist ihre beispiellose machiavellistische Ignoranz.

     

    Und zwar zum Thema Verbote bzw. zum vermeintlichen Label Verbotspartei. Was die Grünen ihren Wählern (und Nichtwählern) jetzt an Häutungsabfall vor die Füße wirft ist unsäglich.

     

    EIN Wort (und nix von wegen "Eff-Wort", s. o.) - und diese Partei zerlegt sich von selbst, das muss man sich mal vorstellen.

     

    Göreiter, Kretschdemir und Gleichgesinnte haben wohl nichts Idiotischeres und Destruktiveres im Sinn als womöglich AfD- und FDP-Stimmen anzusprechen um damit potenzielles Stimmvolk zusammenzukratzen? Und hinterher zackzack ab ins Bett mit der CDU?

     

    Na dann Goodbye B90/Grüne, schön war die Zeit.

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    Ich wähle schon lange nicht mehr Grün, weil ich der Meinung bin, dass diese Partei die Ideale, mit denen sie einst antrat, schon längst verraten hat.

     

    Wer vom Veggie-Day schweigen will, der braucht über Freiheit erst recht nicht zu schwadronieren.

     

    Dass es für diese Gesellschaft mittlerweile schon fast ein Ausschlusskriterium ist, moralisch zu argumentieren, zeigt nur, wie dekadent diese geworden ist.

     

    Dass die Grünen dieser Dekadenz Tribut zollen, zeigt mir, dass sie ihre "Werte" (wie alle "Wertkonservativen") umso lieber verraten, je schlechter sie vermeintlich in der Gunst der Wähler stehen. Wenn sich aber die Politik nur noch nach den Wählern richtet und selbst kein Rückgrat mehr zeigt, brauchen wir auch keine Parteien mehr.

     

    Die Grünen haben kein Problem mit ihrer moralischen Überheblichkeit, sondern mit ihrem bis zur Unkenntlichkeit verkommenen Profil.

  • 7G
    774 (Profil gelöscht)

    "Die Freiheitspartei" - Aha, die Grünen wechseln nun auch ins neoliberale Lager. Was der Lobbyismus nicht alles bewirken kann. Letztlich ist alles nur eine Preisfrage.

  • „Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung“, führte Winfried Kretschmann aus. Aus der Freiheitsdiskussion würden sich deshalb konkrete politische Verpflichtungen ergeben. Zum Beispiel den Bildungserfolg von der Herkunft zu entkoppeln, weil nur so für alle die Bedingungen geschaffen werden, von ihrer Freiheit auch Gebrauch zu machen.„Die Grünen haben gegen Gewalt in der Ehe gekämpft, als im Bundestag viele überhaupt kein Problem darin sahen. Sie haben für die Rechte von Schwulen und Lesben gestritten, als Peter Gauweiler Aids-Kranke in Lager sperren wollte. Sie haben sich für die Rechte von MigrantInnen und Flüchtlingen eingesetzt, als anderen noch immer in Kategorien von Gastarbeitern dachten.“ Das sind z.B. freiheitliche Errungenschaften grüner Politik! Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter: "Wir müssen wieder anfangen, über unser Land, inmitten von Europa, nachzudenken und für Visionen zu kämpfen." Das wollen Die Grünen nicht wie Ukip, AfD und Front National sich das wünschen: nationale Abschottung und zurück in die Kleinstaaterei, altbackene Geschlechterrollen, Herrschaft der nationalen Wirtschaftskapitäne.

  • Kretschmanns Einschätzung der Bundespartei als Wirtschaftspartei ist eine Provokation. Was will er damit nur erreichen? Eine Spaltung der Grünen? Will er das in Kauf nehmen und hofft andere Wählergruppen für die Partei zu gewinnen. Das könnte klappen. Leider. Leider deshalb, weil unsere Umwelt weiter kaputt gehen wird und wir Menschen Geld nicht essen können.

    • @Ralf Engelhard:

      Ohne Moos nix los, auch keine politische Gestaltung. Also muss jede Regierungspartei die Wirtschaft im Auge haben.

       

      Wenn die Steuereinnahmen wegbrechen, kann man die tollsten Ansätze und Ideen haben - umsetzen kann man davon dann nichts mehr.

       

      Ergo ist das keine Provokation was Kretschman beschreibt, sondern Realitätssinn.

    • @Ralf Engelhard:

      Ich könnte vermuten, Kretschmann wird in Stuttgart kein zweites Mal als "Heilsbringer" der Tunnelbahnhofsgegner in den Landtag einziehen. Das wissen die nur zu genau.

      Ergo gibt es dort mit Sicherheit abtrünnige "Kreuzgänger", die er und die Seinen sich aus dem wirtschaftsfreundlichen Lager zu holen gedenken. Traurig.