■ Bundesgerichtshof regelt Gutachten in Mißbrauchsprozessen: Suggestion ist keine Lösung
Die großen Mißbrauchsverfahren vor dem Mainzer Landgericht haben der Aussagepsychologie zu zweifelhaftem Ruhm verholfen. 25 Männer und Frauen aus drei Wormser Familien waren dort angeklagt, kollektiv 16 Kinder mißbraucht zu haben. Erste psychologische Gutachten bestätigten die Aussagen der Kinder, spätere Expertisen hielten die Aussagen dagegen für unbrauchbar. Die Zeitungen sprachen vom „Krieg der Gutachter“, der Ruf der Glaubwürdigkeitsgutachten war ernsthaft lädiert. Am Ende gab es lauter Freisprüche.
Jetzt hat der Bundesgerichtshof in einem anderen Fall festgestellt: Die Methoden der Aussagepsychologie sind brauchbar, man muß sie nur richtig anwenden. Fast schon lehrbuchhaft listet das gestrige Urteil auf, was zu den „Regeln der Kunst“ gehört. Sicher ein wichtiger Beitrag zur Versachlichung.
Doch das Problem der „Suggestivbefragung“ von kindlichen ZeugInnen ist damit noch nicht gelöst, denn es liegt auf einer tieferen Ebene. Die Aussagepsychologie setzt ja erst an, wenn eine Aussage des Kindes vorliegt. Was aber kann man tun, wenn das Kind sich nur auffällig verhält und der Verdacht des Mißbrauchs auftaucht? Gerade hier wurden ja umstrittene Methoden angewandt wie das Spiel mit „anatomischen Puppen“ oder das gemeinsame Erzählen der „Geschichte vom anderen (mißbrauchten) Kind“. Hintergrund dieser Methoden ist die Annahme, daß mißbrauchte Kinder einem „Schweigegebot“ unterliegen, das überwunden werden muß.
Allerdings ist gar nichts gewonnen, wenn die so erlangten Aussagen nicht gerichtstauglich sind. Der BGH hat verdeutlicht, daß ein Glaubwürdigkeitsgutachten nicht mehr vernünftig durchgeführt werden kann, wenn Erwachsene einem Kind mögliche Erlebnisse „angeboten“ haben. Immerhin ist es so, etwa in Mainz, zu nachweislichen Falschaussagen gekommen. Damals sollen Kinder gemeinsam mißbraucht worden sein, die sich zu der Zeit gar nicht kannten.
Wie kann das Schweigegebot dann überwunden werden? Der Berliner Psychologieprofessor Max Steller glaubt, daß ältere Kinder von sich aus Gesprächssignale aussenden, auf die man eingehen muß. Und bei Kindern im Vorschulalter verblasse das Schweigegebot automatisch nach einiger Zeit, wenn diese (in schweren Verdachtsfällen) in eine neue Umgebung gebracht wurden. Und falls ein Kind nach einem Jahr immer noch „schweigt“ – dann war der Verdacht ja vielleicht wirklich unbegründet.
Christian Rath
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