Bürokratie in Deutschland: Die Regeln des teuren Bauens
Auch die Bürokratie und zu viele Bauvorschriften machen das Bauen in Deutschland teuer. Ein Gebäudetyp E soll helfen: E wie einfach.
L etztlich ist das Bürgerliche Gesetzbuch mitschuldig daran, dass das Bauen unbezahlbar geworden ist. Dort steht in Paragraph 633: „Das Werk ist frei von Sachmängeln, wenn es die vereinbarte Beschaffenheit hat.“ Mehr als 100 Jahre schlummerte dieser harmlose Satz im Gesetz, bis er vor etwa 15 Jahren im Baugewerbe eine fatale Wirkung zu entfalten begann: Er machte das Bauen kompliziert – und eben teuer.
Den Mechanismus, der dahintersteckt, hat Ronald Hoinka von der Rechtsanwaltskanzlei Oberthür & Partner bei einer Anhörung der Hamburgischen Bürgerschaft geschildert. Bei dem, was Hoinka und andere Experten – Projektentwickler, Architekten, Verbandsvertreter – vortrugen, offenbarte sich ein Dickicht aus Standards und Vorschriften, aus dem sich die Branche nur mit Mühe wird befreien können.
Eine rasche Lösung verspricht die Einführung eines neuen „Gebäudetyps E“, E wie einfach, der die Baukosten um zehn Prozent senken könnte. Im Juli machten das Bundesjustiz- und das Bundesbauministerium erste Vorschläge, wie so ein neuer Gebäudetyp aussehen könnte.
Wo die Probleme liegen, machen folgende Zahlen deutlich. Nach Schätzung des Deutschen Städte- und Gemeindebundes hat sich die Zahl der Bauvorschriften in den vergangenen Jahren von 5.000 auf 20.000 vervierfacht – knapp 4.000 davon sind DIN-Normen, an denen keiner vorbeikommt. Die Zahl der zu beachtenden Regelwerke stieg laut der Baukostensenkungskommission der Bundesregierung von 650 (1994) über 3.300 (2015) auf 3.700 (2022).
Der Wust dieser Regeln sei auch für die erfahrensten Leute in seinem Büro kaum zu durchschauen und führe zu heißen Diskussionen in der Teeküche, „was denn jetzt gerade das aktuelle Recht ist“, berichtete Finn Warncke, der Vorsitzende des Bundes Deutscher Architekten in Hamburg bei der Anhörung im November.
Einen Teil der Anforderungen hat sich die Branche nach Ansicht des Baurechtsexperten Hoinka selbst zuzuschreiben. Denn in der Regel legen Bauherren nicht genau fest, wie ihr Haus beschaffen sein, also nach welchen Standards es errichtet werden soll. Zum Zuge kommen dann die „anerkannten Regeln der Technik“. Wer diese nicht einhält, ist im Zweifel haftbar.
Durch diesen Mechanismus hätten sich „in den letzten 15 bis 20 Jahren die Anforderungen an das gesetzeskonforme Bauen dramatisch erhöht“, sagte Rechtsanwalt Hoinka. Damals sei noch mit 2.000 Euro Herstellungskosten pro Quadratmeter kalkuliert worden. Für 2016 ermittelte die Kieler Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen in Hamburg Herstellungskosten von 2.700 Euro im Median – das bedeutet, eine Hälfte aller Wohnungen war billiger, die andere teurer. Im vergangenen Jahr lag der Median bei 4.500 Euro. Das sind fast 70 Prozent mehr.
Ein großer Teil dieses Anstiegs ist den gestiegenen Material- und Lohnkosten beim Bauen geschuldet. Dazu kommen die Vorgaben des Klimaschutzes und obendrauf die erwähnte fatale Regelungsdynamik: Die Bauwirtschaft habe die Qualitätsstandards immer weiter erhöht, auch ohne dass das gesetzlich vorgeschrieben gewesen wäre, sagte Hoinka, „einfach weil sie glaubten, leichter Kunden finden zu können“. Solange die Zinsen extrem niedrig waren, seien die Mehrkosten für die Bauherren auch nicht ins Gewicht gefallen. „Im Ergebnis war es dann eine anerkannte Regel der Technik, weil es alle gemacht haben.“ Keiner konnte hinter dem anderen zurückstehen.
Dementsprechend stieg der Arbeitsaufwand. 1993 seien für das Bauen noch ein Architekt, ein Statiker, ein Baugrundgutachter und bei größeren Projekten ein Bautechniker nötig gewesen, berichtete der Architekt Warncke. „Heute haben wir für alle Themen eigene Fachingenieure, die auf ihrem Gebiet eben die absoluten Fachleute sind und sich absichern müssen.“ Dazu gehören Schadstoffgutachter, Brandschutzplaner, Brandschutzprüfer, Schallschutzgutachter, Leute für das Energiekonzept und die Einhaltung der Energieeinsparverordnung bis hin zum Nachhaltigkeitszertifizierer, die bezahlt werden wollen.
Wie sich die Baustandards verändert haben, illustrierte Warncke am Aufbau einer Zimmerdecke. 1999 bestand die Decke einer hochwertigen Eigentumswohnung aus 14 Zentimetern Stahlbeton mit einem Aufbau von 8,5 Zentimetern. Heute ist der Stahlbeton mindestens 20 Zentimeter dick, dazu kommt ein Aufbau von 17 Zentimetern, der verschiedene Dämmschichten, Estrich und Fußbodenbelag umfasst.
„Dadurch, dass da oft eine Fußbodenheizung ist und die Leitungen sich kreuzen müssen, potenziert sich das“, sagt Warncke. Noch vor fünf, sechs Jahren seien 15 Zentimeter Aufbau diskutiert worden, heute manchmal schon 18. „Also es ist wirklich irre.“
Warncke kritisiert, dass viele Betonbauten überdimensioniert seien: „Rein statisch könnten sie wesentlich dünner gestaltet sein, aber es kann dann mal zu einem Riss kommen.“ So ein Riss könne zwar bedenkenlos zugespachtelt werden, und eigentlich wäre es aus seiner Sicht auch sinnvoll, so zu verfahren. „Aber wenn man diese Risse vermeiden will, dann hat man sehr viel Masse, die man einbringen muss und CO2 und Kosten.“
Bisweilen folgt auch aus der einen bautechnischen Verbesserung ein Rattenschwanz weiterer Veränderungen: Besserer Schall- und Wärmeschutz nach außen steigert das Lärmempfinden in der Wohnung. Als Konsequenz dämmen die Architekten die Wasserleitungsschächte, was diese wiederum so warm macht, dass sich darin Legionellen vermehren können. Folglich müssen getrennte Kalt- und Warmwasserschächte eingezogen werden, was womöglich den Wenderadius eines Rollstuhls im Bad einschränkt, sodass das Bad größer werden muss. „Das potenziert sich immer mehr“, so Warncke. „Und das ist unser Alltag.“
Sehr aufwändige Standards
Warnckes Beispiele sind Legion. Er spricht von überdimensionierten Heizungen, die so ausgelegt sind, dass sie auch im kältesten Winter in jeder Ecke der Wohnung 22 Grad garantieren; von Fehlerlichtbogenschutzschaltern, die vor einem Blitzeinschlag schützen sollen und auf Drängen des Herstellers Standard für jede Wohnung geworden seien, obwohl einer pro Haus reichen würde; von aufwendiger Regenentwässerung, die beheizt werden muss, und fragwürdigem Schallschutz.
Soll ein Bestandsgebäude etwa für das Wohnen umgenutzt werden, muss der Mindestschallschutz nach DIN gewährleistet werden. Das führt dazu, dass die alten Böden höher gelegt werden müssen, mit der Folge, dass die Türen nicht mehr passen und die Fensterbrüstung nicht mehr hoch genug ist, um absturzsicher zu sein. Eine vom Architekten vorgeschlagene Sicherungsstange will der Denkmalschutz unbedingt rund haben, was aber die Gefahr birgt, dass Kinder darunter durchrutschen könnten. Irgendwann stelle sich dann die Frage, ob so ein Haus nicht besser abzureißen wäre, sagte Warncke.
„Mindestschallschutz ist viel, viel besser als das, was wir aus eigenem Erleben aus dem Altbau kennen“, sagte Patrick Bauer, Geschäftsführer der Hamburger Firma B&O Bau. Aber auch mit einem Mindestschallschutz und ebenso einem erhöhten Schallschutz nach DIN gebe es keine Garantie, nichts von den Nachbarn mitzubekommen. „Wenn Sie wirklich nichts hören wollen, dann werden Sie zu Wahnsinnskonstruktionen kommen“, warnte Bauer.
Bei geltender Rechtslage sei es schwer, diese Tendez zu immer aufwändigeren Bauten zu stoppen, sagte der Projektentwickler Stefan Sellschopp bei der Anhörung. Davon abzuweichen, selbst einvernehmlich, sei riskant. „Wenn wir Regelungen treffen zwischen den Bauherren und den Bauunternehmungen oder Handwerkern, steht am Ende des Tages immer der Mieter vor der Tür und macht Ansprüche geltend.“ Wenn ein besserer Schallschutz bautechnisch erreicht werden könnte, sei der dann eben auch das Maß der Dinge.
Der Rechtsanwalt Hoinka forderte deshalb, die Definition des Baumangels im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ebenso wie im Strafgesetzbuch (StGB) zu entschärfen. Außerdem müsse man „auch die Mangelvorschrift im Mietrecht ändern“, sagte er, „es ist unausweichlich“.
Hoinka schweben weichere Formulierungen vor, die den Baufirmen und Planern mehr Spielraum lassen, von anerkannten Regeln der Technik abzuweichen. Künftig soll es reichen, dass technische Lösungen in vergleichbarer Weise statt in gleichem Maße die Schutz- und Qualitätsstandards erfüllen, die mit den anerkannten Regeln der Technik sichergestellt werden.
Hoinka schlägt auch vor, bei der Sanierung und Umnutzung von Altbauten die Regeln der Technik zum Zeitpunkt des Baus heranzuziehen. Am weitesten geht sein Vorschlag, die deutschen Vorschriften über Bord zu werfen und sich auf die „Grundanforderungen für Bauwerke“ der EU zu beschränken. Hoinka plädiert für „eine weitgehende vertragliche Regelungsfreiheit, weil nur so dem Wohnungsbau kurzfristig wieder auf die Beine geholfen werden kann“.
Den Vorschlag, ins Baurecht neben den heutigen Typen 1 bis 5, die Gebäude danach differenzieren, ob sie frei stehen und wie groß sie sind, einen neuen Gebäudetyp E einzuführen, betrachtet Hoinka skeptisch. E steht für „einfach Bauen“ oder „experimentelles Bauen“. Hoinkas Ansicht nach müsste dafür ein genauer Katalog von Maßnahmen erstellt werden, bei denen Abweichungen von den technischen Baubestimmungen erlaubt wären. „Das wäre angesichts der komplexen Verzahnung der gesetzlichen Regelungen mit diesen Baubestimmungen eine Mammutaufgabe, die einen Zeitraum von mehreren Jahren in Anspruch nehmen dürfte“, glaubt Hoinka. Auch der Projektentwickler Sellschopp wies auf die komplexe Rechtslage hin und warnte: „Es wird zu einer Ausweitung der Bürokratie sowie Zunahme der Gerichtsprozesse führen.“
Andere ficht das nicht an: Vor einem halben Jahr starteten in Bayern 19 Pilotprojekte des Gebäudetyps E mit dem Segen des bayerischen Bauministeriums. Das Konzept geht auf eine Initiative der Bayerischen Architektenkammer zurück. Sie zielt darauf ab, „Normen zu reduzieren, um schnelleres, einfacheres, kostengünstigeres und ressourcenschonenderes Planen und Bauen zu ermöglichen“. Die Pilotprojekte sollen wissenschaftlich begleitet werden, um festzustellen, ob das Planen und Bauen tatsächlich erleichtert wird, die Kosten sinken und wo Gesetze geändert werden müssen.
Bewegung auf Bundesebene
Dazu gibt es auch auf Bundesebene mächtig Bewegung. Am 11. Juli machte das Bundesjustizministerium Vorschläge, wie der Gebäudetyp E zivilrechtlich abgesichert werden könnte: Der Begriff „anerkannte Regeln der Technik“ soll konkreter gefasst werden, Komfortstandards sollen nicht dazu zählen, in Verträgen zwischen Profis, also Planern und professionellen Auftraggebern, sollen Abweichungen erleichtert werden und nicht mehr automatisch als Mängel gelten.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Öffentlich-rechtliche Vorgaben, die alle Bauvorhaben einhalten müssen, bleiben bestehen: Gebäude müssen stabil sein, feuersicher, nachhaltig und barrierefrei.
Zur Umsetzung hat das Bundesbauministerium eine „Leitlinie und Prozessempfehlung Gebäudetyp E“ veröffentlicht. Darin steht beispielhaft, wie Normabweichungen zwischen den am Bau Beteiligten vereinbart werden können.
Für Andreas Breitner, den Direktor des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW), geht der Gesetzentwurf in die richtige Richtung. Er werde es wohl möglich machen, preiswerter zu bauen, ohne dass die Wohnqualität sinkt. Viele Normen des Bauens – vor allem bei der Haustechnik – führten nicht zwingend zu den gewünschten Ergebnissen, verteuerten aber massiv den Wohnungsbau. Die im VNW organisierten Genossenschaften und kommunalen Unternehmen plädierten daher für eine Kultur des klugen Weglassens. „Was nicht eingebaut wird, kann nicht kaputt gehen und verursacht keine Kosten“, sagte Breitner.
Einer, der ausprobiert hat, wie einfaches Bauen funktionieren könnte, ist Patrick Bauer vom Projektentwickler B&O Bau, der sich als „Treiber der Bauwende“ versteht. B&O hat im bayerischen Bad Aibling zusammen mit der Technischen Universität München drei Versuchshäuser gebaut, die er bei der Hamburger Anhörung vorstellte: ein Betonhaus mit dicken Wänden, ein Holzhaus und ein Haus mit Wänden aus fluffigem Infraleichtbeton. Mit den flachen Dächern und kleinen, zum Teil abgerundeten Fenstern sieht die kleine Häuserreihe aus wie eine römische Kaserne.
Bauer und seine Kollegen übten sich in der Kunst des Weglassens: Decken und Wände bestehen aus nur einer Schicht, im Beton steckt kaum Bewehrung. Die Häuser sind kompakt gebaut, ohne Vorsprünge, mit wenig Außenfläche. Die dicken Wände und Decken wirken temperaturausgleichend und schalldämmend. Die Innenwände – Beton, Ziegel, Holz – sind so gestaltet, dass sie nicht gemalert oder tapeziert werden müssen – im Gegenteil: gar nicht dürfen. Strom- und Kommunikationsleitungen liegen unter Leisten vor den Wänden, sodass sie leicht demontiert und modernisiert werden können.
Bauer verfährt bei seinen Häusern nach dem Prinzip „robustes Optimum“. Das speist sich aus der Erfahrung, dass Bewohner ein Gebäude nicht unbedingt so nutzen, wie sich die Planer das gedacht haben. Ein gutes Beispiel dafür sind Energiesparhäuser mit automatischer Belüftung, in denen Bewohner Lüftungsöffnungen zustopfen oder mit gekippten Fenstern lüften, sodass rechnerische Spareffekte nicht erreicht werden – viel Aufwand für wenig Wirkung.
Bauer plädiert deshalb dafür, das Verhalten der Bewohner mitzudenken, und so zu bauen, dass solche Manipulationen erst gar nicht infrage kommen. Weniger Technik bedeutet weniger Kosten und weniger Wartungsaufwand.
Der Architekt Warncke warnt, die Planung könne sich nicht darin erschöpfen, die Technik und den Komfort immer weiter zu optimieren. Dafür an der Fassade zu sparen, wäre auch nicht nachhaltig – schließlich sollten die Häuser ja nicht bloß 50 Jahre halten, sondern 100 oder 300 Jahre. Wie das zu schaffen ist? „Es müssen Gebäude sein, die geliebt werden“, sagt Warnke.
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