Bücher über Putin und Russland: Und das alles war absehbar
Catherine Belton zeichnet den Weg des Präsidenten von seiner Zeit in Dresden bis heute nach. Stefan Creuzberger beleuchtet die russischen Revolutionen.
Schon am Vorabend der Machtübernahme Wladimir Putins hätte man die ersten Warnsignale aus Moskau vernehmen können. Ende Dezember 1999, wenige Tage bevor er die Regierungsgeschäfte übernahm, skizzierte Putin in dem Text „Russland an der Jahrtausendwende“ die Programmatik für sein Land.
Liberale Werte seien in Russland historisch nicht verwurzelt, „für die Russen ist ein starker Staat keine Anomalie, die es loszuwerden gilt. Ganz im Gegenteil – sie betrachten ihn als Quelle und Garanten der Ordnung und als Initiator und Triebkraft jedes Wandels“, schrieb der damals wenig bekannte Politiker, der nach einem kurzen, steilen Aufstieg Nachfolger Boris Jelzins wurde.
Zwar gab Putin vor, er strebe ein demokratisches Gebilde an, doch die tiefen historischen Kränkungen Russlands, die nun auch zu dem grausamen Angriffskrieg gegen die Ukraine führten, sprechen bereits aus diesem Text.
Wichtige Punkte auf Putins damaliger Agenda: „Glaube an die Größe Russlands. Russland war eine Großmacht und wird eine bleiben“, „Wenn wir Patriotismus, Nationalstolz und Würde verlieren, (…) werden wir auch als Nation, die Großes geleistet hat, untergehen“. Eine seiner frühen Amtshandlungen war es dann 2001, die Hymne der Sowjetunion mit verändertem Text wieder einzuführen.
Catherine Belton: „Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“. Aus dem Englischen von Elisabeth Schmalen. Harper Collins, Hamburg 2022, 704 Seiten, 26 Euro
In Catherine Beltons investigativem Recherchebuch „Putins Netz“ kann man den Weg von seiner Zeit als KGBler in Dresden bis heute nachverfolgen. Belton, lange Zeit Moskau-Korrespondentin der britischen Financial Times, legt den Schwerpunkt in ihrem detailliert recherchierten Werk auf den Staatskapitalismus, den Putin installierte, die Lenkung der Justiz, die unter seiner Führung ungeahnte Ausmaße annahm, und vor allem auf das russische Schwarzgeld, das seine alte KGB-Bande auf westliche Banken und in Offshore-Unternehmen verschob.
Dieses Geld nutzt Putin seit den zehner Jahren unter anderem dazu, den Westen gezielt zu destabilisieren – mit Desinformationskampagnen, Unterstützung der Trump-Kandidatur und vielem mehr.
„Die Übernahme der Wirtschaft – und der Justiz und des politischen Systems – durch die KGB-Kräfte führte zu einem Regime, in dem die Milliarden Dollar, die Putins Kumpanen zur Verfügung stehen, aktiv dafür genutzt werden, die Institutionen und Demokratien des Westens zu untergraben“, schreibt Belton. Deutlich wird, dass Putin sich mitnichten komplett gewandelt hat, sondern all das, was wir heute sehen, früh angelegt war. Nachdem er an die Macht gelangte, witterte er mehr und mehr seine historische Chance.
Catherine Belton hat viel brisantes Material zusammengetragen. Sie schildert, welche Verbindung Putin und sein Stasi-Freund Matthias Warnig zu seiner Dresdener Zeit mit der RAF pflegten – die Autorin insinuiert, dass beide in den Mord an Alfred Herrhausen 1989 mindestens eingeweiht gewesen seien.
Industriespionage und Schmuggel
Auch Putins Verwicklung in die Industriespionage und dem Schmuggel westlicher Technologien widmet sie sich ausführlich. Seine Verbindungen zur St. Petersburger Mafia und der sogenannten Tambow-Gruppe zu seiner Zeit als Leiter des städtischen Komitees für Auslandsbeziehungen werden ebenfalls aufgezeigt.
„Einmal KGB, immer KGB“, lautet eine Redensart – die Wege der kleinen Herrscherclique nachzuzeichnen, die die russischen Unternehmen und die Macht an sich reißt, ist Beltons Hauptaugenmerk. Als „tschekistische Oligarchie“ hat der oppositionelle Politiker Boris Nemzow – eines der mutmaßlichen Opfer Putins – diese Staatsform bezeichnet.
Die globalen wirtschaftlichen Verflechtungen, insbesondere die nach London, werden in „Putins Netz“ so akribisch verfolgt, dass es mitunter schwer ist zu folgen. Dabei aber hilft immerhin ein vorangestelltes Personenregister.
Die Autorin geht zudem noch einmal dem Verdacht nach, der russische Inlandsgeheimdienst FSB stecke hinter den Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser in Russland 1999 und habe sie initiiert, um Putin an die Macht zu verhelfen.
Eurasisches Großreich
Auch wer die wichtigsten Vordenker Putins sind, ist hier nachzulesen. Allen voran sind das der Religionsphilosoph Iwan Iljin (1883–1954), der aus orthodoxem Glauben und Patriotismus eine neue nationale Identität formen wollte, sowie Alexander Dugin, der ein eurasisches Großreich als Gegenentwurf zum liberalen Westen propagiert.
Es war – auch das eine Lehre aus diesem Buch – absehbar, dass die Ukraine für Putin ein Battleground werden könnte. Zu sehr demütigten ihn Einschätzungen wie jene, die der einflussreiche US-Politikberater Zbigniew Brzezinski 1996 äußerte: Ohne die Ukraine sei Russland keine Weltmacht mehr, schrieb er bereits damals.
Doch als Putin dann wirklich 2014 die Krim annektierte, war „der Westen (…) ganz benommen von den dreisten Schritten der Putin-Regierung“, so Belton. Aus dem Stadium der Benommenheit ist der Westen acht lange Jahre bis zum Überfall auf die gesamte Ukraine nicht herausgekommen.
So spannend wie erschütternd liest es sich, wie Putin nicht nur in der Heimat den Propagandaapparat ausbaute, sondern im Westen Organisationen gründete, um seinen Einfluss auszuweiten – etwa die Institutionen Stiftung Russki Mir und Rossotrudnitschestwo. Seine Verbindungen zu rechten und rechtspopulistischen europäischen Parteien, die Belton aufzählt, waren weitgehend bekannt, allerdings soll Putin auch linke EU-kritische Kräfte finanziell unterstützt haben.
Michael Carpenter, Russlandberater des damaligen US-Vizepräsidenten Joe Biden, äußerte 2015 gegenüber der Autorin, auch Die Linke würde finanziell aus Russland unterstützt. Würde dies Gerücht einmal belegt, hätte es durchaus politische Sprengkraft.
Doppelte Standards
Wer die Ursache dafür finden will, warum Linke im Fall Russlands oft doppelte Standards anwenden, und wer über die Grundlagen der deutsch-russischen Beziehungen etwas lernen will, der sollte Stefan Creuzbergers Buch „Das deutsch-russische Jahrhundert“ zur Hand nehmen.
Creuzberger beleuchtet insbesondere die Zeit von den Revolutionen 1917/1918 bis zur Perestroika sehr ausführlich, um daraus Erkenntnisse für die Gegenwart zu gewinnen. Denn es sei „wenig hilfreich, die aktuelle Problemlage auf die Polemik ‚Russland-Versteher oder nicht‘ zu reduzieren. Die Entwicklung zwingt vielmehr dazu, sich bewusst auf die Frage des Verstehens einzulassen, ohne dies zwangsläufig mit Billigung gleichzusetzen“, schreibt er.
Stefan Creuzberger: „Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 72 Seiten, 36 Euro
Da, wo Creuzbergers Buch endet, beginnt von den Zeitläuften her das kurze Interregnum Jelzins, das bekanntermaßen zwar demokratischere Strukturen, aber keinerlei Stabilität brachte. Das Vakuum, das daraus entstand, nutzte Putin.
Um von heute aus die westlichen Versäumnisse und Missverständnisse zu verstehen, hilft es auch, in alten Büchern zu blättern. Der kürzlich gestorbene russische Menschenrechtler Sergei Kowaljow kommt etwa in Florian Hassels Buch „Der Krieg im Schatten. Rußland und Tschetschenien“ (2003) zu Wort.
Zum russischen Vorgehen im zweiten Tschetschenienkrieg erklärt er: „Wenn man eine Liste derjenigen erstellt, die an der grausamen Behandlung friedlicher Zivilisten schuld sind, muß man mit Wladimir Putin anfangen. Er weiß hervorragend, was vor sich geht. Und was vorgeht, ist nicht weit von Völkermord entfernt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Sicherheitsleck in der JVA Burg
Sensibler Lageplan kursierte unter Gefangenen