Buch „111 Bauwerke in Berlin“: Wie man sich Berlin ins Haus holt
„111 Bauwerke in Berlin“ von Lucia Jay von Seldeneck und Verena Eidel ist ein Buch für eine Stadttour. Oder man schmökert darin auf der Couch.
Wenn es eines an diesem neuen Architekturführer für Berlin zu bemängeln gibt, dann, dass die Texte oft zu kurz erscheinen. Genau eine Seite für jedes ausgesuchte Bauwerk hat die Autorin Lucia Jay von Seldeneck zur Verfügung in dem Buch „111 Bauwerke in Berlin, die man kennen muss“. Aber so lustvoll, wie ihre Beschreibungen sind, so gewitzt, wie sie die visuellen Botschaften der Architektur auf die Berliner Geschichte bezieht, so zugewandt, wie sie auf die Ideen von Bauherren und Architekten eingeht, würde man oft gern noch etwas mehr wissen, etwas weiterlesen.
Das ist andererseits aber auch eine Qualität des Buchs. Die Autorin verfällt nicht in Fachjargon. Ihre Beobachtungen und ihre Sprache lassen Vertrautes neu entdecken und verändern den Blick. Zum Beispiel auf ein Verwaltungsgebäude am U-Bahnhof Kleistpark, an dem ich seit 30 Jahren oft vorbeigelaufen bin. Nicht wissend, dass das „Kathreiner Haus“ 1930 als erstes Hochhaus von Berlin gefeiert wurde.
Von Seldeneck weist auf ein Detail hin in dem Bau von Bruno Paul, die horizontalen Fenster, die aber dennoch das Fensterkreuz beibehalten haben, nur eben auf die Seite gelegt. Und plötzlich ahnt man etwas von der Eleganz des massiven Baus, der nicht zuletzt wegen des langen Leerstands auch so unbelebt wirkte.
Auf Entdeckungstour in der eigenen Stadt, das ist coronabedingt gerade eine notwendige Übung. Wenn man auch als langjähriger Berliner viele Bauwerke bereits kennt, ist doch schon allein daheim im Buch zu stöbern mit vielen Aha-Momenten verbunden, weil sich der Blick verändert. Es gibt auch bisher nicht Gesehenes oder nicht Beachtetes zu entdecken wie eine Bushaltestelle in Stahnsdorf von Christian Roth, spitz und stachelig, ein skulpturales Experiment, oder die überschäumende, verschnörkelte und verspielte Dekoration im Treppenhaus des Amtsgerichts Mitte.
Lucia Jay von Seldeneck, Verena Eidel: „111 Bauwerke in Berlin“. emons-Verlag Köln 2020, 300 Seiten, 18,95 Euro
Oder ein erst 2019 fertig gewordenes Studierendendorf im Plänterwald, von Heinz Kobler Architekten gebaut aus Containern, 420 gestapelte Module. Dazu gehört auch eine Ladenstraße am U-Bahnhof Onkel Toms Hütte, von Otto Rudolf Salvisberg 1929 als erstes Einkaufszentrum der Stadt entworfen. Die Fotografien von Verena Eidel, deren Blick sich oft auf Details richtet, helfen der Vorstellungskraft.
Gebäude, die aus jeder Architekturgeschichte fallen
Die Bauwerke sind nach einer alphabetischen Ordnung aufgelistet, das wirbelt sowohl die chronologische Ordnung als auch die topografische durcheinander. Gründerzeit, Jugendstil, Neue Sachlichkeit, Bauhaus kommen vor, aber nicht als Leitbilder. Die Autorin und die Fotografin führen auch gern an Gebäude heran, die in sich widersprüchlich sind, vom Stilmix her aus jeder Architekturgeschichte fallen.
Sie mögen es, wo etwas ausprobiert wird und Formsprachen getestet werden. Und sie brechen eine Lanze für die Ästhetik des Brutalismus, der in Westberlin einige wissenschaftliche Einrichtungen in den 1960/70er Jahren geprägt hat, wie das Institut für Hygiene und Umweltmedizin am Hindenburgdamm: Wie der Blick sich längs der Fassade aus Sichtbeton bewegt, hüpft, springt und Kurven folgt, ist von ungeahnter Dynamik.
Ebenso gilt ihre Bewunderung der Moderne Ostberlins, gerade auch in den repräsentativen Kulturpalästen wie dem großzügigen Kino International (gebaut von Josef Kaiser und Heinz Aust 1963) und dem eleganten Funkhaus Nalepastraße, das schon 1951 von Franz Ehrlich gebaut wurde. Oder dem kleinen Rathaus Marzahn, das den Palast der Republik zitiert. Diese Höhepunkte ihres Buchs werden von mehreren Fotos begleitet.
Debatten um den sozialen Wohnungsbau
Trotz des knappen Platzes nimmt die Autorin auch auf Debatten Bezug wie den Verruf, in den Projekte des sozialen Wohnungsbaus gerieten, am Beispiel der Bunkerüberbauung in der Pallasstraße oder der Autobahnüberbauung Schlangenbaderstraße; einerseits hatten die ihren schlechten Ruf weg wegen Verflechtungen zwischen Politik und Bauwirtschaft, andererseits weil die großen Komplexe zum sozialen Brennpunkt geworden waren. Bei beiden Projekten schließt die Autorin aber hoffnungsfroh, dass eine durchmischte Bewohnerstruktur inzwischen gut funktioniere.
Ein weiteres Thema ist die Rettung von Architekturen vor dem Abriss und ihre neue Nutzung mit Beteiligungsmodellen. Dafür stehen das Haus der Statistik am Alexanderplatz und das Kranhaus in Oberschöneweide, ein Anker in der Umnutzung einer alten Industriebrache. So legen sich beim Lesen nach und nach immer mehr Schichten von Berlins Geschichte übereinander, und die Architektur wird nicht allein um ihrer selbst willen betrachtet, sondern weil sie so viel von der Stadt, ihrem Wollen und Wünschen, ihrem Versagen und Scheitern erzählen kann.
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