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Buch „Atlas of Brutalist Architecture“Evolutionäre Bewegung

Als der Phaidon Verlag den „Atlas of Brutalist Architecture“ veröffentlichte, war der schwere Band schnell ausverkauft. Jetzt wurde er neu aufgelegt.

Poplavok Café, Oscar Grigorievich Havkin, Dnipro, Ukraine, 1976 Foto: Frederic Chaubin/Phaidon

Das hätte sich damals sicher auch niemand träumen lassen, dass die steil nach oben ragenden Monolithen, die massiven Kuben, die absurden Neuzeitkastelle und die kreuz und quer übereinander­gestapelten Riegel aus Beton irgendwann einmal eine solche Schwärmerei entfachen würden wie zuvor allenfalls die Architektur der Mid Century-Moderne. Begeisterung ja, Schock auch, denn polarisieren konnte der Brutalismus, seit er Mitte des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal auf der Bildfläche erschien.

Das Internet dürfte einen entscheidenden Anteil an der breiten Wiederentdeckung brutalistischer Bauwerke haben. Und womöglich auch an deren Niedlichwerdung: Plötzlich gab es Unmengen an Blogs, Bildstrecken, Pinterest-Sammlungen und Hashtags, die die potenziell schaurigen, zumindest aber doch dem Menschen einige Demut abverlangenden Bauten in handlicher Größe ganz nahbar präsentierten.

Während die von den einen ungeliebten Bauwerke längst demoliert sind oder ihre Zukunft doch zumindest im Ungewissen liegt, entwickelte sich eine ungeahnte Nostalgie für jene Nachkriegsarchitektur, die nie nostalgisch sein wollte.

Blitzschnell ausverkauft

Der „Atlas of Brutalist Architecture“, der dem Phänomen 2018 eine weitere Plattform und zugleich den bis dato größten globalen Überblick in Buchform bot, war jedenfalls blitzschnell ausverkauft. Jetzt ist eine neue Version erschienen, die wie der Vorgänger über 850 Bauten aus 102 Ländern präsentiert.

Brutalismus findet sich im Osten wie im Westen, im globalen Süden und im Nor­den, in Dikta­turen und in Demokratien

Begriffsdefinitionen werden, das steht ganz offen im Vorwort, generös ausgelegt – denn natürlich franst der Brutalismus an seinen Rändern aus, wie auch die Suche nach der Begriffs­entstehung bis heute Unterschiedliches hervorbringt (war es Le Corbusiers „béton brut“, der rohe Beton, der den Namen lieh, hatte Alison Smith 1953 mit „New Brutalism“ den Begriff bereits geprägt, oder verlief die Entwicklung zeitgleich parallel?)

So zeigt das Buch ein maximales Spektrum brutalistischer Erscheinungsformen: Nicht nur erschlagend oder kühl modernistisch, sondern auch aberwitzig, fantastisch, organisch anmutend, postmodern, wild verspielt oder gar neofolkloristisch wie im Kosovo oder in Mexiko.

Neben Wohnhäusern gibt es öffentliche Plätze, Springbrunnen und Monumente, sogar Parkanlagen, die komplett in die Vertikale gebaut sind (wie der Freeway Park in Seattle), Bi­bliotheken, Krankenhäuser, Forschungseinrichtungen, Museen, Wassertanks, Kirchen und Kommerzielles. I. M. Peis archaische Pyramidenbauten sind ebenso dabei wie George Chakhavas and Zurab Jalaghanias Ministerium für Autobahnbau in Tiflis oder zum Beispiel Gerd Hänskas „Mäusebunker“ in Berlin.

Brutalistische Bauwerke gibt es überall

Es ist schlicht falsch, dass der Brutalismus irgendeiner Ideologie oder Staatsform eigen gewesen wäre. Im Gegenteil, wie dieses Buch unumstößlich zeigt: Brutalistische Bauwerke entstanden in bemerkenswerter Dichte östlich wie westlich des Eisernen Vorhangs, im globalen Süden und im Norden, in Diktaturen und in Demokratien. Und sie entstehen bis heute, wie Beispiele von Zaha Hadid über Ricardo Bofill bis Herzog & de Meuron auch im Buch belegen.

Was Brutalismus eine Weile lang und teilweise entgegen seiner landläufigen Rezeption damals hingegen schon war: ein architektonisches Unterfangen, um utopische Poten­ziale eines guten Lebens für viele, oder zumindest doch für mehr als eine Handvoll Menschen in der dritten Dimension auszutesten. Plötzlich entstanden gigantische Wohnriegel, Wohnblöcke und Wohntürme, in denen Abertausende Menschen Platz hatten, und das in durchaus großzügigen, attraktiven Wohnungen.

Ob das Vorhaben im Einzelnen immer gelungen ist? Man erinnert sich an Horrorgeschichten von Gewalt und Verbrechen in dem Londoner Wohnhochhaus Trellick Tower nach Entwürfen von Ernő Goldfinger, einst sozialer Brennpunkt, der heute auch begehrte Eigentumswohnungen beherbergt.

Kein Allheilmittel für die Pro­bleme

Oder an handfeste bauliche Mängel, gut gemeinte, aber schlecht gemachte (weil die Eigenheiten des Betons nicht ausreichend berücksichtigende) Konstruk­tionen. Aber diese Probleme hatte der Brutalismus natürlich nicht exklusiv, das betrifft auch ganz andere städtebauliche Unterfangen. Architektur ist kein Allheilmittel für die Pro­bleme dieser Welt, und wie bei nahezu allen anderen Sujets, über die man so urteilt, werden auch hier oft genug Korrelation und Kausalität verwechselt.

Das Buch

„Atlas of Brutalist Architecture“, bei Phaidon, 568 Seiten, 65 Euro

„Brutalismus stellt nicht in Frage, was bis jetzt erreicht worden ist; es ist eine evolutionäre, keine revolutionäre Bewegung“, wird der Architekt und Kritiker Jürgen Joedicke im Vorwort zitiert. Vielleicht liegt hier ein weiterer Grund für seine Anziehungskraft in durchdigitalisierten Lebenswelten: als baulich verwirklichtes Paradox einer unbestechlich manifestierten Gegenwart. Ganz konkret (und concrete ist im Französischen ja auch ein anderer Name für das Kompositmaterial).

Bemerkenswerterweise hat man sich entschieden, den 568 Seiten schweren Band – anders als übrigens den Atlas der Mid-Century Moderne, der im selben Verlag erschienen ist – ohne Ausnahme mit Schwarz-Weiß-Fotografien zu illustrieren. Was visuell naheliegt, dem historisierenden Charakter, entgegen dem im Vorwort angemerkten Vorhaben, aber natürlich Vorschub leistet.

Würde es den Schrecken nehmen, den Schauer mildern, wenn man diese spektakuläre Angstlust-Architektur in Farbe betrachten könnte? Ja: „SOS Brutalismus“ beispielsweise, bereits 2017 zur gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum he­rausgegeben, erlaubte mit seinen oft farbigen Abbildungen gleich einen ganz anderen, viel lebensnaheren Blick auf die brutalistischen Bauwerke.

Umfangreicher Überblickstitel

Auch gibt es Bücher, die re­gional in die Breite und inhaltlich stärker in die Tiefe gehen. Der „Atlas of Brutalist Architecture“ bleibt vor allem einer der wohl umfangreichsten Überblickstitel und damit ein echtes Staunwerk. Die Bauwerke führen immer wieder zur gerade so schwierigen, weil permanent auseinanderdriftenden Gegenwart zurück.

Vielleicht, denkt man sich beim Blättern, ist dies ja wirklich Architektur par excellence; all ihre Möglichkeiten, visionären Potenziale und realen Probleme in einem Bauwerk kumulierend, nichts beschönigend. Eine Positionierung im Hier und Jetzt regelrecht he­rausfordernd.

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1 Kommentar

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  • de.wikipedia.org/w...taufnahme_2014.jpg

    Total brutal!



    Man kann sich gar nicht sattsehen!



    Hier durfte auch ich studieren.



    Und dann auch noch die Abkürzung: RUB. Hier passt alles wie die Faust aufs Auge. Mittlerweile ist die RUB ein Denkmal der Hochmoderne. Hart-härter-Hochmoderne; das hilft im Leben - Bochum brutal!