Bruder von Hanau-Opfer über Gedenken: „Erinnern heißt verändern“
Vor vier Jahren wurden bei einem rassistischen Anschlag in Hanau neun Menschen ermordet. Bis heute kämpfen Angehörige für Aufklärung.
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Çetin Gültekins Bruder Gökhan verlor bei dem Anschlag in Hanau sein Leben. Im Januar erschien Çetin Gültekins Buch „Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland“, in dem er das Leben seines Bruders Gökhan sowie das Behördenversagen nach dem Anschlag in Hanau beschreibt.
wochentaz: Herr Gültekin, was gibt Ihnen vier Jahre nach dem Anschlag die Kraft, weiter für Gerechtigkeit zu kämpfen?
Çetin Gültekin: Gökhan. Ich bekomme Kraft aus Gott, aus Gebeten, aber auch aus Gökhans positiver Einstellung. Und aus der Gesellschaft und ihrer Solidarität, die uns bis heute trägt.
Der Name des Täters ist der Öffentlichkeit kaum bekannt, alle Aufmerksamkeit lag auf dem Gedenken der Ermordeten. Wie haben Sie das geschafft?
1974 in Hanau geboren, kämpft im Namen seines bei dem Attentat getöteten Bruders Gökhan für Aufklärung, gegen Rassismus. Er kommt am 27.April zum taz lab.
Wir haben nach dem Anschlag schnell die Initiative 19. Februar Hanau gegründet. Und wir haben dem Täter keine Aufmerksamkeit geschenkt, wir nennen ihn nur „Rassist“. Das haben wir von Anfang an gut gemeistert. Unsere Botschaft ist: „Say their names.“ Wir erinnern an unsere Liebsten.
Kann das Erinnern dabei helfen, so einen Anschlag in Zukunft zu verhindern?
Ja, erinnern heißt verändern. Nur so können wir es schaffen, dass so etwas nie wieder passiert. Unsere Initiative fordert Erinnerung, Aufklärung, Gerechtigkeit und Konsequenzen. Bei manchem sind wir machtlos, da müssen wir zu Gerichten und Politikern. Aber für Erinnerung brauchen wir keine Politiker, wir konnten hier in Hanau eine gute Erinnerungskultur schaffen.
Wieso gingen nach den Enthüllungen der Correctiv-Recherche Millionen Menschen auf die Straße, nach dem rechtsterroristischen Anschlag vor vier Jahren aber nicht?
Weil es sie jetzt selbst betrifft. Vor Hanau war ich auch nicht aktiv, mein Alltag ging nach den Anschlägen in Solingen oder Mölln weiter. Und Hanau hat die meisten Leute nicht betroffen, aber das Geheimtreffen betrifft sie. 23 Millionen Menschen hier haben einen Migrationshintergrund, ein Viertel der Bevölkerung ist betroffen.
Zur diesjährigen Gedenkveranstaltung in Hanau hatten sich auch Politiker*innen angekündigt, Angehörige der Ermordeten sprachen sich gegen deren Teilnahme aus.
Wenn Politiker kommen, werden Vorschriften gemacht, wie viele Leute zu der Veranstaltung kommen dürfen. Wir wollten nicht, dass nicht alle Hinterbliebenen am Grab trauern dürfen. Als wir letztes Jahr bei einer Kundgebung auf dem Marktplatz Politiker kritisiert haben, fühlten sie sich angegriffen. Aber was erwarten sie von uns? Sollen wir sagen: „Danke, dass unsere Kinder tot sind. Danke, dass es keine Gerechtigkeit gibt?“
Was kann jede*r Einzelne gegen Rassismus tun?
Die Menschen sollten zur Vernunft kommen und aufpassen, wen sie wählen. Das soll doch ein gewaltfreies, demokratisches Land sein, wieso sind die Rechten so stark? Wählt andere Parteien! Und lest mein Buch! Es sollte Pflichtlektüre an Oberschulen sein, damit die Menschen ein Verständnis von Rassismus bekommen. Ich hoffe, dass wir mit Gökhans Buch Rassismus minimieren können.
Wie soll Ihr Bruder den Menschen in Erinnerung bleiben?
Gökhan war ein sehr hilfsbereiter Mensch. Wie sehr, haben wir erst nach seinem Tod mitbekommen, als sich eine Hilfsorganisation für Augenoperationen aus Togo bei der Stadt Hanau gemeldet hat. Sie haben seinen Namen in den Nachrichten gehört und eine Beileidsbekundung an die Stadt geschrieben.
Die Organisation kannte ihn?
Genau, er hat regelmäßig an sie gespendet, davon wussten wir aber gar nichts. Deshalb gehen auch meine Anteile, die ich mit dem Buche verdiene, als Spende an diese Organisation. So wird er auch nach seinem Tod Menschen das Sehen ermöglichen.
Wem würden Sie Ihr Buch gerne schenken?
Steven Spielberg, damit es richtig publik wird. Es zeigt das wirkliche Leben und sollte verfilmt werden. Ein Regisseur wie Spielberg, der auch einen Film über das Münchner Olympia-Attentat gemacht hat, könnte auch hieraus einen machen. Eigentlich fehlt nur der Kontakt zu ihm.
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