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Britische Fankultur Northern SoulKeep Up The Spirit

Northern Soul ist eine in Deutschland wenig beachtete Fankultur, mittlerweile ist der Funke übergesprungen. Das zeigen ein Buch und eine Köllner Partyreihe, die nun ihr Jubiläum feiert.

Blick in den Zuschauerraum vom DJ-Pult beim Allnighter „Soulful Shack“ in Köln, 1988 Foto: Andreas Kees

Ein Roman, mehrere Liebeserklärungen auf einmal: Benjamin Myers stellt diese polyamorische Anordnung in seinem neuen Werk „Strandgut“ null überfrachtet dar. Lakonisch und leidenschaftlich zugleich schildert der britische Schriftsteller, wie Musik Menschen bewegt, und wie Menschen, die für Musik leben, allen Demütigungen zum Trotz weitermachen. Und genau darin die Würde an den Tag legen, der es denjenigen, die gerne demütigen, grundsätzlich fehlt.

Zunächst: Myers setzt in „Strandgut“ dem klassischen US-Soulsound der 1960er und 1970er abseits der großen Namen ein Denkmal. Er kocht Soul-Mythen auf molekulare Songs ein, sodass der Gegenstand konkret wird, klein vielleicht, aber – frei nach Peter Hacks – niemals eine Kleinigkeit.

Es geht in „Strandgut“ ausführlich um das Schmachten des fiktionalen Sängers Earlon „Bucky“ Bronco, der mit seiner Ekstase und Präsenz die Hoffnungen und Ängste, die Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen der Black Community in den USA in dem zweieinhalbminütigen Song „Until the Wheels Fall Off“ zusammengefasst hat. Er wurde zwar als Single veröffentlicht, der große Erfolg blieben Song und Künstler jedoch verwehrt.

Wut und Black Power

Bucky hat die Musikindustrie nur als bedrückende Welt mit fiesem Manager, Frohn­dienst im Studio und Knebelvertrag erlebt. Mit seinem Bruder besuchte Bucky 1968 ein empowerndes Konzert von James Brown, wird angesteckt von Black-Power-Wut und wandert wegen einer dummen Geschichte in den Knast. Zu dieser fiktionalen Story lassen sich in der realen Geschichte von US-Soul zahlreiche Parallelen finden. Nicht zuletzt in James Browns Biografie selbst.

Northern Soul

Benjamin Myers: „Strandgut“. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont Verlag, Köln 2025, 287 Seiten, 24 Euro

Olaf Karnik, Frank Schäfer (Hrsg.): „The Soulful Shack“. Sprungturm Verlag, Köln 2025, 40 Seiten, 6 Euro

„Soulful Shack 40th Anniversary“. Allnighter, 27. 9. 2025, Stadtgarten Köln

Myers lässt diese in den USA längst versunkene Popwelt an einem unwirtlichen Ort wieder auferstehen: im nordenglischen Seebad Scarborough, selbst ein verwunschenes Städtchen mit maroder Strandpromenade, heruntergekommenen Hotelpalästen und fetttriefenden Imbissstuben. Die passende Kulisse für „Strandgut“, dazu noch das grauenvoll nasskalte Wetter! Hier trifft Myers’ Protagonist Bucky auf seine britischen Fans.

Northern Soul wird der Kult um afroamerikanische Musik in England genannt, eine zähe, immer wieder sich verjüngende, einfach nicht totzukriegende Fankultur, in der es neben Musik auch um Mode, Tanzstile und Sammelleidenschaft geht. Sta-Prest Hosen, Röcke mit Hah­nen­tritt­muster, Halbschuhe mit Quasten, aber auch Amphetamine, um die nächtlichen Tanzmarathons durchzustehen und die Jagd nach seltenen Schallplatten, deren Cover beim Auflegen von den DJs verklebt werden, damit die Konkurrenz nicht weiß, welcher Song gerade gespielt wird.

In den Tanzsälen der alten britischen Seebäder

Die „Allnighter“ genannten Northern Soul-Tanzparties haben tatsächlich ab Ende der 1960er in alten Tanzsälen von Blackpool bis Wigan ihren Anfang genommen, als Fortsetzung der Modkultur. Traten dabei zunächst R&B-Bands live auf, haben bei den Allnightern recht bald DJs Platten aufgelegt, es gab höchstens Showcases mit Gast­sän­ge­r:In­nen.

Das Adjektiv „Northern“ von Northern Soul bezieht sich nicht auf die USA, sondern auf die genuin nord­eng­lische Vorliebe für seltene US-Platten, verzinktere, düstere, in Vergessenheit geratene Soulsongs; gerne von obskuren In­ter­pre­t:In­nen auf kleinen Labels. Der schottische Journalist Stuart Cosgrove hat Northern Soul als musikalisches Pendant zum Film Noir beschrieben, womit er recht hat: Düsternis, Schatten und Licht sind wiederkehrende Momente in den Songtexten.

Das emanzipative Moment ist tonangebend, aber eher als individuelles Schicksal. Es ist ein Kunstgriff von Benjamin Myers, dass er in „Strandgut“ reale Northern Soul-Hymnen, wie „6 By 6“ von Earl Van Dyke und „Blowing Up My Mind!“ von den Exciters einfließen lässt, er hat gut recherchiert.

Bitte beachten Sie auch die typischen „Playmobil“-Topfschnitt-Frisuren der Mods: Tanzfläche beim „Soulful Shack“ 1988 in Köln Foto: Andreas Kees

Die Kundschaft aus dem Norden

Es heißt, „Northern Soul“ als Begriff sei in einem Londoner Plattenladen geprägt worden, um den raueren Geschmack von Kundschaft aus Manchester und weiter nördlich zu fassen. Der Originaltitel von Myers Roman erklärt jene Leidenschaft besser: „Rare Singles“. Fans geben schon mal Unsummen für seltene Northern-Soul-45er aus, die in den USA längst vergessen sind. Das Northern-Soul-T-Shirt-Motto ist eine geballte schwarze Faust und der Slogan „Keep Up The Spirit“, der besondere Geist von Party und Musik, er muss bewahrt werden.

In Deutschland setzte die Rezeption von Northern Soul mit rund 15-jähriger Verspätung ein. Es gab zwar ab den 1970ern an Standorten der US-Army Diskotheken, in denen Funk und Disco-Platten gespielt wurden, aber kaum Soul. Mods traten erst als Revival in den 1980ern in Erscheinung. 1984 veröffentlichten die Kölner Au­to­r:In­nen Clara Drechsler und Gerald Hündgen dann im Musikmagazin Spex einen zweiteiligen Artikel über die britische Northern-Soul-Tradition, wie sie sie bei einer Reportagereise selbst vor Ort beobachtet hatten.

Hündgen war es auch, der mit anderen DJs in Köln 1985 die Partyreihe „Soulful Shack“ etablierte. Sie gilt als erste Northern-Soul-Party in Westdeutschland und findet mit Unterbrechungen bis heute statt. Zum 40. Jubiläum ist nun ein Büchlein erschienen, das auf der morgen steigenden runden Geburtstagsfeier erstmals verkauft wird.

Über den Umweg Punk

Northern Soul ist hierzulande nur über den Umweg von Punk heimisch geworden: „An jeder Ecke begegnete uns eine Musik, die vor Punkrock da war und nach allem anderem weiterlebte (es ist nicht Genesis…)“, schreibt Clara Drechsler erfrischend spitzfindig im Vorwort. Die Wühlarbeit von „The Soulful Shack“ hat sich gelohnt, der Funke ist übergesprungen. Inzwischen gibt es hierzulande in vielen Großstädten Allnighter, sogar Weekender nach britischem Vorbild, zu denen selbst britische Ultras anreisen. Wobei die hiesige Northern-Soul-Szene überschaubar bleibt. Die Eng­län­de­r:In­nen haben halt die besseren Platten und die längere Tradition.

Zurück zu „Strandgut“. Von der Verehrung jenseits des Atlantiks hat Soulsänger Bucky in Chicago nie etwas mitbekommen. Für die Single, die er eingesungen hat, kassierte er einmalig 75 US-Dollar Gage. Seit seine Frau verstorben ist, verliert er an Halt. Er musste sich nach dem vorzeitigen Ende der Sängerkarriere als Boxer durchschlagen. In England, wo seine einzige, 1969 veröffentlichte Single umkultet ist, kommt er als Wrack mit Hüftschmerzen an. Wie er überhaupt seinen Song „Until The Wheels Fall Off“ auf der Bühne singen soll?

Hat seine Recherche gemacht: Benjamin Myers in Nordengland, 2019 Foto: Richard Saker

Der Plot von „Strandgut“ ist also nicht mit Retro-Puppenhaus-Flair aufgezogen, sondern als beinhartes Kitchen-Sink-Sozialdrama. Bucky ist Opioid-süchtig. Myers zeichnet dieses Schicksal zwar nicht weich, aber er normalisiert die Schmerzmittelepidemie in den USA anhand eines Einzelfalls und entdämonisiert die Krankenakte dadurch, dass er einen Süchtigen als Mensch mit Makeln darstellt, nicht als Opfer.

Empathie für einen Gebeutelten

Eine Gratwanderung, die über weite Strecken nachvollziehbar aufgeschrieben ist, weil Myers einem Gebeutelten Würde zuteil werden lässt, die ihm in den USA nicht zuteil wird. In Scarborough trifft Bucky auf Dinah, die Künstler und DJs vom Flughafen abholt, Essen im Backstage bereitstellt und ihn vor Ort betreut. Dinah ist mit einer unschönen Familiengeschichte ebenfalls Kummer gewohnt, kann sich durch ihre Leidenschaft für Soulmusik vom Alltag befreien und spendet dem Sänger Empathie.

Diese Personenkonstellation entwickelt sich durch das unterschiedliche Alter der beiden zu mitunter sarkastischen Dialoggefechten und kafkaesken Situationen, in denen Dinahs Hilfsbereitschaft auf eine harte Probe gestellt wird, aber doch Früchte trägt.

Benjamin Myers hat bisher eher Buddyromane geschrieben, von seinem Erfolg in Deutschland wirkt er fast überfordert, so hat er es in einem Text für das Musikmagazin The Quietus glaubwürdig dargelegt. Eigentlich handelt der von der britischen Grindcore-Band Napalm Death und ihrem kurzen Song „You Suffer“. Dann geht er über zur Schilderung einer Angststörung, die bei Myers pünktlich vor Treffen mit dem Lektor einsetzt.

Myers Versuche, über Napalm Death einen Roman zu schreiben, waren zum Scheitern verurteilt. Dass „Strandgut“ auch auf Deutsch veröffentlicht wurde, ist daher erst mal eine gute Nachricht. Auch wenn die Vermarktung vom Dumont Verlag eher Richtung Ferienlektüre geht – mit kitschigem Küstengemälde auf dem Einband – und vermeidbaren Übersetzungsfehlern: Little Stevie Wonder (wie Wonder zu Beginn seiner Karriere auf den Motown-Alben genannt wurde) als „der kleine Stevie Wonder“ wiederzugeben, ist hart.

Die Liebe zur Soulmusik muss viel aushalten! Myers kann dieses Gefühl nachvollziehbar beschreiben, wenn Dinah beim Einkaufen im Supermarkt schlimme Muzak anhören muss, anstatt „Songs die etwas aussagen“ und nicht getränkt sind vom „zynischen Nachgeschmack zielgerichteter Marketingtricks“.

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