Die Kunst der Woche: Bäume sind die großen Alchemisten unserer Welt
In der Zitadelle Spandau ist eine Retrospektive von Vera Mercer zu sehen. Im Haus am Kleistpark geht's in Fotos von Loredana Nemes um „Haut und Holz“.
D ie Natur ist das Thema von Vera Mercer, deren große Retrospektive derzeit in der Zitadelle Spandau zu sehen ist. Richtig besehen heißt es allerdings Nature morte. Die 1936 in Berlin geborene Fotografin wollte ursprünglich Gärtnerin werden. Tatsächlich wurde sie Tänzerin und lernte am Landestheater Darmstadt den ebenfalls dort tanzenden Daniel Spoerri kennen, den sie 1958 heiratete. Ein Jahr später zog das Paar nach Paris, wo es in der Kunstszene Fuß fasste. Als Spoerri damals seiner Frau eine Kamera schenkte, war ihr weiterer künstlerischer Werdegang entschieden. Zunächst knipste sie einfach die Freunde wie Jean Tinguely, Samuel Beckett, Marcel Duchamp, und darunter ein ganz bezaubernd aussehender junger Gerard Depardieu, wie im Zentrum für Aktuelle Kunst (ZAK) zu sehen.
Nach der Scheidung von Spoerri beginnt sie in den Pariser Hallen eine große Serie zu fotografieren, in deren Zentrum die Schlachter standen. Schon da war zu sehen, was ihre spätere Fotografie auszeichnen sollte: Ihr einzigartiges Gespür für die Verbindung von Grausamkeit und Opulenz, die sie in hochästhetischen Aufnahmen feiert.
In Paris fotografierte sie bald darauf die Menschen im Restaurant beim Essen. Was natürlich viel interessanter ist als die Bilder, die Menschen heute von ihrem Essen machen. Noch fotografiert sie Schwarzweiß und ihre Bilder erinnern an Brassais Nachtaufnahmen in Pariser Bars und Restaurants aus den 1930er Jahren.
1970 heiratet sie Mark Mercer, einen Geschäftsmann, mit dem sie in Omaha, Nebraska, alte Gebäude renoviert. In sie ziehen dann Galerien, kleine Theater und Buchhandlungen ein, vor allem aber von ihnen selbst betriebene Cafés und Restaurants. Essen, seine Materialien, seine Zubereitung und seine Präsentation, bleiben also ihr Thema – auf das sie sich ab den 1990er Jahren vollkommen einschießt, möchte man sagen.
Großartige Stillleben
Denn nun arrangiert sie die zum Verzehr bestimmten Tiere, Fische, Pilze, Gemüse und Früchte zusammen mit dem Tafelsilber, den Gläsern und Karaffen, dem Blumenschmuck und dem weißen Tischtuch zu großartigen Stillleben. Ihr „Old wild turkey head“ (2011) entspricht ganz der durch niederländische Jagdstillleben oder die flämischen Küchenstücke des 17. Jahrhunderts geprägten Erwartung an Schönheit und Tod in der Nature morte. Die tote Haut schillert im riesigen Farbformat und die prachtvollen Truthahnfedern glänzen besonders effektvoll.
Doch immer unverblümter – bei aller beibehaltenen Blumenpracht der Arrangements – zeigt sie die Gewalttätigkeit unseres Handelns: Sie zeigt das tote Tier gehäutet, ausgeweidet und zerstückelt. So die schneeweißen „Calf’s Feet“ (2012), die sie gegen eine schmuddelige Wand gelehnt hat – streng in einer Reihe mit Silberbesteck, einer niedergerannten Kerze und einer schneeweißen Fenchelknolle.
Was Mercers Stillleben deutlich in unserer Zeit verankert, ist der Surrealismus, der die Bilder in anmutigen, dabei aber grotesken Zusammenstellungen prägt. Dazu sind die Arrangements zuletzt eher zweidimensional aufgebaut, die Dinge sind also aneinander gereiht, anstatt sie in Neo-Barock-Pracht üppig in die Tiefe anzuordnen. Tatsächlich entwickelt Vera Mercer bei aller Verneigung vor den klassischen Stillleben ihren ganz eigenen Stil von Schönheit, in dem nichts beschönigt wird.
Bis 11. Januar, Zentrum für Aktuelle Kunst, Berlin-Spandau, Zitadelle, Am Juliusturm 64, Fr.-Mi. 10–17 Uhr, Do. 13–20 Uhr
Die Bäume von Loredana Nemes muss man gesehen haben. Welche Schönheiten! Welch grandiose Aufnahmen. Wann passiert es schon, dass man sich ganz und gar in das Motiv vertieft und dabei das Bild doch nicht aus den Augen verliert?
Das Bild von der besonderen Anmut der Bäume im Frühling, von den schlanken Stämmen im lichten Schleier der ersten zarten Blätter. Wenn Loredana Nemes die Bäume später im Jahr fotografiert, fällt auf, wie sehr ihr volles Laub das Bild zu einem Spiel von Licht und Schatten macht. Die nackten Stämme dann im Herbst und Winter treten den Betrachter:innen dann wie eine abstrakte Wand vertikaler Linien entgegen.
In den Schwarzweiß-Aufnahmen zeigt sich eine große Hingabe und Geduld, die richtigen Bäume am richtigen Ort zu finden, um sie dann im richtigen Licht festzuhalten. Im Haus am Kleistpark, wo Loredana Nemes unter dem Titel „Haut und Holz“ vier Fotozyklen aus den letzten sechs Jahren zeigt, beherrscht der Zyklus „Graubaum und Himmelmeer“ (2019–23) die große Ausstellungshalle. Man glaubt, die Bäume vom Spaziergang an der Havel und am Wannsee zu kennen.
Tatsächlich hat Nemes sie auf der Insel Rügen in Mecklenburg-Vorpommern entdeckt. Sie stehen nahe am Ufer und das Wasser im Hintergrund erscheint oft nur als helle Fläche, manchmal mit einem kaum merklichen Horizont. In einem Licht, als wären sie von großen Scheinwerfern angestrahlt, ragen davor die Buchen empor. Man sieht sie in der Erde wurzeln, ihre Kronen allerdings sind nicht im Bild. Die Scheinwerfer können aber nur als ein einziger sein: die Sonne. Aber wie sie die Szenerie beleuchtet, ist schwer erklärlich, unmerklich fast und dann doch so dramatisch.
In strahlendes silbriges Licht getaucht
Zwischen die Bäume sind einzelne Aufnahmen vom Meer gehängt. Manchmal schwebt eine Wolke über dem dunklen Wasser, das ein anderes Mal in strahlendes silbriges Licht getaucht ist, und dann wieder erscheint es als eine schwarze Fläche unter einem wolkenlosen, undefinierbaren Himmel.
Man denkt an Hiroshi Sugimotos „Seascapes“, während die Baumstämme an die neusachliche Natur von Albert Renger-Patzsch erinnern. Selbstverständlich sind auch die anderen Werkgruppen zu Sizilien, zur Liebe und „White“ mit den schneebedeckten Tannen in den Alpen großartig und verdienen eine eigene Würdigung.
In den Bäumen aber scheint ein besonderes Wissen auf. Wir sind ihre Geschöpfe, als atmende Tiere. Denn die Bäume sind die großen Alchemisten unserer Welt. Mithilfe von Sonnenlicht gewinnen sie nährenden Zucker aus Wasser und Kohlenstoff, wobei Sauerstoff abfällt. Wir atmen ihn ein wenig bewusster im Haus am Kleistpark.
Bis 14. Dezember, Haus am Kleistpark, Berlin-Schöneberg, Grunewaldstr. 6–7, Di.–So. 11–18 Uhr; Künstlergespräch mit Ulrich Domröse am 19. November, 19 Uhr
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