Brexit-Gegner in London: Jubel vor dem Parlament
Die Brexit-Sondersitzung des britischen Unterhauses fiel zusammen mit einer Großdemo für ein zweites Referendum.
Vor und hinter dem großen Monitor stehen dicht gedrängt die Aktivisten für ein zweites Brexit-Referendum. Der Menschenauflauf ist so groß, dass sie es nicht bis zum Platz vor dem Parlament schaffen. Hunderttausende, laut einigen Veranstaltern sogar eine Million Menschen sind am Samstag dem Aufruf der Kampagne „Peoples Vote“ gefolgt.
Sie tragen Europafahnen, Europamützen, EU-T-Shirts und selbstgemachte Banner. Auf gelben Aufklebern steht „Bollocks to Brexit“. Immer wieder wird skandiert: „Was wollen wir? Eine Volksabstimmung! Wann? Jetzt!“ Kurz vor 15 Uhr beginnt es zu regnen.
Einige wollen sich deswegen bereits auf den Heimweg machen, als plötzlich spontaner Jubel und Applaus aufbraust, gleichzeitig gesittet und allgegenwärtg, vergleichbar mit dem Applaus beim Tennisturnier in Wimbledon. „Was ist geschehen?“, fragen viele. „Die haben gegen Boris gestimmt!“ rufen andere. „Ja, Oliver Letwins Antrag, er kam durch!“ Der Ruf „Peoples Vote, Peoples Vote!“ ertönt im Chor im inzwischen strömenden Regen.
Wort für Wort
Mit 322 gegen 306 Stimmen gaben die Unterhausabgeordneten Boris Johnson nicht die erwartete Zustimmung zu seinem neuen Brexit-Deal, sondern befürworteten einen Antrag des Hinterbänklers Oliver Letwin, über den neuen Deal erst dann zu befinden, nachdem die gesamte begleitende Gesetzgebung des „Brexit-Deals“ Wort für Wort behandelt und abgestimmt worden ist.
Die Behandlung eines Gesetzestextes kann sich lange hinziehen, und die Regierung hat das nicht in der Hand. Es können dabei auch weiter Änderungsanträge eingefügt werden, die dann wiederum an die EU zurückgehen könnten, weil damit das Parlament den Deal schließlich verändert hätte.
Damit ist der von Johnson angesteuerte Austrittstermin 31. Oktober akut gefährdet. Ein weiteres im September beschlossenes Gesetz fordert, dass im Fall einer fehlenden parlamentarischen Zustimmung für einen Deal bis zum Abend des Samstag 19. Oktober Johnson eine Verlängerung des EU-Austrittsdatums bei der EU beantragen muss.
Ihr erstes Ziel – einen Brexit am 31. Oktober zu verhindern – haben die Demonstranten dank Letwin also voraussichtlich erreicht. Auf der riesigen Rednerbühne vor dem Parlament gibt es nun lauter zufriedene Gesichter. Hier funktionieren auch die Lautsprecher. Weniger als eine halbe Stunde später endet sogar der Regen. Und zur Überraschung aller erscheinen Politiker, die gerade noch im Parlament bei der Abstimmung waren und auf der Live-Übertragung zu sehen waren, auf der Rednertribüne.
„Der Kampf muss weitergehen“
Keir Starmer, Labours Schatten-Brexit-Minister, ist der erste. Im dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd, ohne Krawatte, tritt er auf. „Wir haben Johnson wieder geschlagen, und zwar mit einer Mehrheit von 16 Stimmen!“ verkündet er, zur Begeisterung der Versammelten.
Trotz der merklichen Erleichterung warnt Starmer die Peoples-Vote-Aktivisten, dass „der Kampf weitergehen“ müsse. Auch die ihm folgenden Labourabgeordneten Emily Thornberry, Diane Abbott und John McDonell unterstreichen dies und betonen, Labour sei nun als Partei für eine zweite Volksabstimmung und Remain-Partei zu verstehen. Das war nicht immer so, denn Labour-Führer Jeremy Corbyn sieht das anders. Und Corbyn fehlt auch bei diesem Auftritt vor dem Parlament.
Stattdessen kommen die Fraktionschefs der Liberaldemokraten, der schottischen Nationalpartei SNP und der Splitterpartei Change UK, aber auch die konservative Rebellin Antoinette Sandbach. Am Ende der Veranstaltung erscheint der 86-jährige Politveteran Michael Heseltine, der einst im Kabinett Maragaret Thatchers diente, und wettert gegen den Brexit. „Die Kosten werden die Ärmsten in der Gesellschaft tragen müssen“, sagt er und ruft die Versammelten auf, weiter und aufrecht voranzuschreiten.
Zum ersten Mal auf einer Demo
Aus der Ferne beobachten Stewart und Kathy Franklin die Ansprachen. Das Ehepaar aus Dewsbury im nordenglischen West Yorkshire ist zum allerersten Mal auf einer Demo. Stewart hat extra Plakate angefertigt, auf denen die Mitglieder des Kabinetts als Akteure eines Horrorfilms gezeichnet sind. „Uns gehört eine kleine Firma, die Erdnussbutter herstellt, und wir exportieren unter anderem nach Italien. Brexit wird unseren Handel erschweren“, sagt Stewart. Die beiden geben sich hoffnungsvoll, dass die heutige Entscheidung das alles doch noch verhindert.
Auch die Gartenbauerin und Künstlerin Charli Clark, 32, aus Bristol hofft, dass es nun vielleicht doch zu einer neuen Volksabstimmung kommen könnte. Sie habe von der EU profitiert, mit einem Magisterstudium in Finnland und Urlauben in Frankreich. „Was mir Sorgen macht, ist die Gefahr, dass Brexit das Vereinigte Königreich auseinanderreißen wird“, sagt sie. „Mir wäre es lieber, wenn die Politik sich auf den Klimawandel statt auf Brexit konzentriert.“
Paul Clarke, 54, und seine Frau Anne, 45, sowie ihre Teenagertochter Stephanie, sind eine französisch-englische Familie aus Biggin Hill am Südostrand Londons. „Nach dem Referendum habe ich versucht, meinen französichen Akzent zu verbergen“, erzählt Anne, die seit einem Jahr auch die britische Staatsangehörigkeit hat. Paul vertraut Boris Johnson nicht: „Er lügt in der Politik und privat“, sagt er.
Bei einem Referendum wird es seiner Meinung nach zu einer starken Remain-Stimme kommen, höher als in den Meinungsumfragen, weil neu eingebürgerte EU-Migranten wie seine Frau Anne und viele jüngere Menschen diesmal mitwählen werden. Er hofft, dass mit parteiübergreifender Zusammenarbeit so wie heute im Parlament auch ein Antrag zu einer Volksabstimmung durchkommen wird, in der die Menschen sich zwischen dem neuen Brexit-Deal und dem EU-Verbleib entscheiden können.
Richard Poole, 37, Jess Havelock, 21, und Alice Lynn, 26 aus Bournemouth sind im Halloween-Kostüm gekommen – Hinweis auf das bisherige EU-Austrittsdatum am 31 Oktober. Sie fordern nicht nur den Verbleib in der EU, sondern auch „ein besseres demokratisches System“, denn „unsere grünen Stimmen konnten bei uns bisher nur Stadträte wählen.“ Lynns Vater stammt aus Nordirland; ihre Großmutter, sagt sie, war Polizistin während der Auseinandersetzungen dort. „Sie und viele andere haben einen schmerzhaften Prozess für den Frieden durchgemacht. Deshalb stimmten die meisten in Nordirland für Remain. Nun setzt Johnson das alles einfach aufs Spiel“, findet sie.
Rugby-Fans vor den Kneipen
Die Sondersitzung des Parlaments ist zu Ende. Später wird bekannt, dass bekannte Brexit-Anhänger wie Jacob Rees-Mogg das Parlamentsgebäude nur unter massivem Polizeischutz verlassen konnten. Videos zeigen, wie er aus der Anti-Brexit-Menge beschimpft wird. Auf sozialen Netzwerken beschimpfen sich beide Lager massiv und heftig.
Die Veranstaltung löst sich auf, plötzlich dominieren nur noch Menschentrauben vor den Kneipen, größtenteils Rugby-Fans, die Englands Erfolg beim Worldcup verfolgen. Ayo Adesina, 36, aus Hackney diskutiert mit einigen den Brexit. „Ich hatte einen Job in Holland, jetzt werden Briten wie ich nicht mehr rekrutiert, und meine Tochter kriegt ihre Medizin gegen Epilepsie aus Europa nicht“, sagt sie. Die Argumente finden unter den angetrunkenen Sportfans keinen großen Erfolg.
Adesina erklärt der taz später, dass er ein paar Rechtsextreme in der Menge erkannte, und deshalb absichtlich das Gespräch suchte. „Ich habe selber für den Brexit gestimmt und inzwischen eine volle Kehrwende getroffen. Ich weiß, wie diese Menschen denken.“
Als später am Abend die Nachricht kommt, dass Boris Johnson tatsächlich die EU um eine Verlängerung gebeten hat, wie vom Gesetz gefordert, haben Räumfahrzeuge bereits das gesamte Viertel gesäubert und die Polizei die Straßensperren beseitigt. Viele Theater haben im Londoner Westend am Samstag abend ihren vollsten Tag, doch das größte Theater im gibt es nun wohl noch einige Wochen weiter kostenlos.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich