Brandanschlag auf Bremer Jobcenter: „Joboffensive treibt in den Wahnsinn“
Das Jobcenter braucht sich über Anschläge nicht zu wundern, findet Herbert Thomsen vom Bremer Erwerbslosen-Verband
taz: Herr Thomsen, über den Brandanschlag auf das Jobcenter vergangene Woche haben Sie geschrieben: „Wie man in den Wald hineinruft – so schallt es heraus“. Was meinen Sie damit?
Herbert Thomsen: Wir erleben viele Leute in unseren Beratungen, die den Anschlag mitbekommen haben und sagen: „Endlich zeigt denen mal einer die Kralle.“ Diese Wut entsteht, weil die Intensivbetreuung durch die sogenannte Joboffensive, die Leute in den Wahnsinn treibt. Die sind völlig verzweifelt, müssen permanent auf sinnfreie Termine. Vernünftige Jobs kommen dabei nicht rum, dafür hagelt es aber Sanktionen. Viele Leute halten das für individuelle Probleme: „Die haben mich auf dem Kieker.“ Dann liegt es scheinbar an einem doofen Sachbearbeiter. Aber mit längeren Erfahrungen stellen sie fest, der nächste ist auch nicht besser.
Aber erklärt das diesen Angriff?
Dieser Brandanschlag ist ja nur die Spitze des Eisbergs und wird gerade viel diskutiert, weil er durch die Presse ging. Das Jobcenter hat bis vor drei oder vier Jahren in der Jahresbilanz die Übergriffe statistisch erfasst. Da sagt einer, „der Sachbearbeiter nervt mich, den zieh ich mir rüber und box ihm eins“. Davon hat es locker über 100 Vorfälle gegeben.
63, Ex-DKPler, war zehn Jahre IG-Metall-Aktivist und -Funktionär auf einer Werft. Er ist Mitbegründer des Bremer Erwerbslosenforums und Berater beim Bremer Erwerbslosenverband.
… der berühmte Tacker, der nicht mehr auf dem Schreibtisch stehen darf.
Solche Dinge passieren nach wie vor. Aber geh mal zum Finanzamt. Hast du da schon mal Security stehen sehen? Ich nicht. Das Finanzamt kann dich mit dem falschen Steuerbescheid auch in die Grütze treten. Trotzdem ist das Jobcenter die einzige Veranstaltung, wo systematisch Sicherheitspersonal aufgestellt ist. Wer da rein geht, muss an der Security vorbei und vorsprechen. Das ist natürlich eine brutale Repressionsansage. Das versteht jeder.
Die linke Diskussion um strukturelle Gewalt läuft ja schon ewig. Warum entzündet sich das immer wieder am Jobcenter? Und warum gerade jetzt?
Der Druck hat mit Hartz IV extrem zugenommen. Vor zehn Jahren war der allergrößte Teil der Bezieher mittleren Alters und hatte keinen Job, weil er keinen gefunden hat. Heute sind das ältere Leute, die gesundheitlich einfach nicht mehr können und trotzdem in ständig neue Zwangsjobs gepresst werden. Wir raten den Leuten schon, sich ärztliche Atteste zu besorgen.
Es gibt also tatsächlich mehr Arbeit als Suchende?
Menschen, die wirklich noch auf den Arbeitsmarkt könnten, sind alle weg. Aber der Markt brummt. Was das Jobcenter zur Zeit macht, ist, ihre Reserve an vermittelbaren Leuten mit brutaler Intensivbetreuung in furchtbare Arbeitsverhältnisse zu lotsen. Wer sich ohne Agentur auf die Suche macht, findet wahrscheinlich was besseres. Dort bleibt nur ein Rest, der in die beschissensten aller Arbeitsbedingungen gepresst wird.
Was sind das für Jobs?
Was sich die Arbeitgeberseite für Lohnformen ausgedacht hat, kann man sich überhaupt nicht mehr vorstellen. Am Hafen herrscht etwa Tagelöhnerei wie vor hundert Jahren. Ich weiß von mehreren Leuten, die da morgens um sechs angetreten sind und an der Tür wieder nach Hause geschickt wurden, weil es keine Arbeit gab. Wenn dann doch was passiert, wirst du 20 Minuten später angerufen und musst plötzlich doch antreten. Dazu dann noch Hartz IV mit seinem Sanktionsapparat. Da wird man doch verrückt.
Was für Perspektiven könnte Widerstand haben?
Im Moment bleibt nur die individuelle Strategie, immer wieder zu sagen: „Diesen konkreten Job mache ich nicht“. Breiter gewerkschaftlicher Protest ist nicht in Sicht. Natürlich müsste man sich organisieren, eine große Demo machen und die Bude so lange belagern, bis sie vernünftige Arbeit macht.
Aber was könnte das Amt unter den gegenwärtigen Bedingungen denn überhaupt tun?
Der Staatsapparat hat seinen Job: Arbeitskräfte dahin zu vermitteln, wo das Kapital sie braucht. Wenn die Behörde jetzt aber sagen würde „Ich glaube an den Sozialstaat, ich glaube an Gerechtigkeit und Demokratie“ dann wäre aber auch ein Jobcenter denkbar, das solche Arbeitsverhältnisse untersucht. Zahlen die nach Tarif? Gibt es da Verstöße? Das Mindeste wäre, dafür zu sorgen, dass Vermittlung nur in Verhältnisse erfolgt, die gesetzlichen Normen entsprechen. Auch wenn die ja schon unterirdisch sind.
In der Linken kursiert die Idee, es gehe da gar nicht mehr um Arbeit, sondern darum, die Überflüssigen zu disziplinieren und unter Kontrolle zu halten.
Ach nein. Natürlich wollen sie Menschen disziplinieren. Aber wenn ich mir die Entwicklung der Gesetze der letzten Jahre angucke, dann habe ich schon den Eindruck, dass da Arbeitskräfte mobilisiert werden sollen. Der Staat hat ja auch am Ausländerrecht Veränderungen vorgenommen, von denen vor zehn Jahren alle nur geträumt haben.
Was meinen Sie?
Als jemand, der hier geboren ist, kann man heute voll durchstarten mit Ausbildung und so weiter. Die alten Ausgrenzungsmechanismen gibt es nicht mehr. Selbst Geflüchtete, die formell nur geduldet sind, haben es heute relativ leicht, solange sie sagen können: „Ich bin potenzielle Arbeitskraft“. Auch die EU-Zuwanderung aus Bulgarien, Rumänien oder Polen: Die Industrie ist darauf angewiesen. Die Leute landen zwar nicht bei Daimler am Band, aber in der Logistik umzu. Und die müssen natürlich diszipliniert und für deutsche Arbeitsbedingungen zugerichtet werden.
Weil Lohnarbeit hier strenger durchorganisiert ist?
Ja, wobei diese Leute es zynischerweise im Kopf sogar leichter haben in der Mühle. Kündigungsschutz kennen sie ja eh nicht. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall schon gar nicht. Wenn hier Leute in der Beratung sitzen, und wir feststellen, dass die über zwei Krankheitswochen einfach keinen Lohn bekommen haben – dann glauben die uns erst mal gar nicht, dass sie tatsächlich ein Recht darauf haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin