Bosnien und Herzegowina: Die Schule für alle
Dem Nationalismus ein Bein gestellt: Als Azra Keljalić erfährt, dass in ihrer Schule künftig getrennt unterrichtet werden soll, stellt sie sich quer.
Es ist eine Trennung, die seit dem Krieg von ethnonationalistischen Parteien vorangetrieben wird. Sie haben durchgesetzt, dass schon Erstklässler nach Religion und Ethnie separiert werden, also nach Bosniaken, Kroaten und Serben. Die Aufteilung wird damit begründet, dass die Kinder in ihrer Muttersprache unterrichtet werden sollen – obwohl sich bosnische, kroatische und serbische Sprache kaum voneinander unterscheiden.
Drei Jahre ist es nun her, dass Azra Keljalić die Nachricht erhielt, dass sie und ihre Mitschüler zukünftig nach Religion und Nationalität getrennt werden sollten: „Wir waren schockiert und wussten sofort, dass wir das nicht zulassen dürfen.“
Diese Segregation hatte Azra Keljalić schon acht Jahre in ihrer Grundschule erlebt, sie wollte nicht hinnehmen, dass es so weitergeht, schon gar nicht an ihrer weiterführenden Schule. Die nämlich orientierte sich an kroatischen Lehrplänen, was sie als Bosniakin nicht weiter störte. Am Ende seien die Konzepte sowieso Makulatur: „Ich war auf einer getrennten Grundschule, nach bosnischem Plan. Dann war ich auf der weiterführenden Schule nach kroatischem Plan. Und jetzt bin ich auf der Universität nach serbischem Plan. Die Lehrpläne sind alle gleich.“
Getrennte Schulen in einem getrennten Land
Trotzdem wollte der zuständige Kanton in Jajce eine Schule eröffnen, in der nach bosnischem Lehrplan unterrichtet wird. Der Kanton Zentralbosnien gehört zu den Teilen Bosnien und Herzegowinas, die auch nach dem Krieg multiethnisch geprägt sind. Immer wieder schüren die ethnonationalistischen Parteien aller Volksgruppen Ängste, eine Gruppe könne die andere dominieren. Die alten Ressentiments, die in Kriegszeiten eingeübt wurden, brechen sich auch im Schulsystem Bahn. Das Ergebnis: getrennte Schulen in einem getrennten Land.
„Äpfel und Birnen soll man nicht mischen. Äpfel zu den Äpfeln und Birnen zu den Birnen.“ So erklärte einst die zuständige Bildungsministerin Greta Kuna, warum kroatische und bosniakische Kinder getrennt unterrichtet werden sollten. In Bosnien und Herzegowina trägt dieses Konzept den euphemistischen Namen „Zwei Schulen unter einem Dach“. Die Realität: Die Schüler werden zeitlich und räumlich getrennt voneinander unterrichtet, einzige Gemeinsamkeit: das Gebäude.
Die Schüler der Kleinstadt Jajce, auf dem Gebiet der Föderation Bosnien und Herzegowina gelegen, wollten den Krieg, der lange vor ihrer Geburt beendet war, nicht weiterführen. Den Protest zu organisieren war schwierig. Am letzten Tag vor den Sommerferien hatte man die Klassen darüber informiert, dass der Unterricht künftig getrennt stattfinde. Da waren die meisten schon in im Urlaub.
Maskierte Schüler auf der Demo – aus Angst vor Repressionen
Azra Keljalić mobilisierte Freunde aus anderen Schulen, um gemeinsam zu demonstrieren. Das blieb nicht folgenlos: Ein Direktor dieser Nachbarschulen, Mitglied der bosnisch-kroatischen Partei HDZ, drohte seinen Schülern unverhohlen, sie hinauszuwerfen, sollten sie es wagen, sich dem Protest anzuschließen.
„Manche Schüler mussten maskiert an den Demonstrationen teilnehmen, um keinen Ärger zu bekommen“, sagt Azra Keljalić. Sie hatten Erfolg – vorläufig: Als die neue Schule nach den Sommerferien nicht eröffnete, dachten die Schüler, der Kampf sei gewonnen. Im nächsten Jahr versuchten es die Behörden erneut.
„Diese Mal waren wir besser vorbereitet“, sagt Azra, „ wir mobilisierten Menschen aus dem gesamten Kanton, waren landesweit organisiert.“ Und sie hatten mächtige Unterstützer gefunden: Zuspruch kam von der deutschen und der US-Botschaft und von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Der Schülerprotest machte Furore.
Greta Kuna, frühere Bildungsministerin
Zu Beginn der Proteste unterstützte Edin Hozan, Bürgermeister von Jajce, die ethnische Trennung. Es gebe eine Petition von Eltern betroffener Schüler, auf die müsse man hören. Doch Azra Keljalić war nicht überzeugt. „Die Petition wurde uns nie gezeigt, und es gab sie wohl auch nie. Angeblich kamen alle Unterschriften aus einem Dorf in der Nähe – es gab mehr Unterschriften als Einwohner“, sagt sie. „Aber als klar wurde, dass die meisten Medien auf unserer Seite stehen, hat der Bürgermeister seine Meinung geändert.“
Edin Hozan trägt Sakko über seinem blau-rot-karierten Hemd. Er ist gelernter Maschinenbauer, an Azra Keljalić’ Schule hat er selbst unterrichtet. Er ist Mitglied der bosniakischen Partei SDA.
Heute sagt er: „Die Kinder wurden nicht getrennt und das macht uns stolz.“ Warum er die Schüler nicht von Anfang an unterstützt habe? Er wirbt um Verständnis: Die Schule habe ein kroatisches Hoheitszeichen verwendet, das rot-weiße Schachbrettmuster, und kein bosnisches Symbol. Viele in Jajce sind sich sicher: Der Sinneswandel des Stadtoberen habe weniger mit seiner Überzeugung als vielmehr mit der Angst zu tun, er und seine Partei könnten am Ende schlecht dastehen.
Ganz überzeugt ist Hozan noch nicht, schließlich gebe es Fächer, „bei denen es besser ist, wenn wir sie getrennt unterrichten“. Darauf besteht er weiterhin. Er glaubt, dass sonst die „kulturelle Identität“ der Menschen in Gefahr sei. Viele seiner Wähler glauben das auch.
Der Lehrer über seine Schüler
Der 40-jährige Tarik Zjajo trägt Ziegenbart, Sneaker und ein weites Hemd. Er widerspricht dem Bürgermeister: „Muttersprache und Geschichte sehe ich ein, aber was die sich bei Geografie, Musik und bildender Kunst gedacht haben, kapiere ich nicht.“
Tarik Zjajo arbeitet seit 16 Jahren an der Schule in Jajce. Von Anfang an stand er auf der Seite der Schüler. So wie die meisten anderen Lehrer auch. Nur zwei, drei seien gegen die Proteste gewesen, meint er.
Der Lehrer erklärt, dass die Kinder nach acht Jahren Trennung an der Grundschule zusammen in seine Klasse kämen: „Am Anfang der neunten Klasse setzen sich dann erst die Katholiken zu den Katholiken und die Muslime zu den Muslimen.“ Doch das ändere sich nach wenigen Wochen: „Dann setzen sich die Schüler nicht mehr nach der Religion, sondern nach Interessen zusammen. Die Fußballer zu Fußballern, die HipHopper zu HipHoppern.“
Zjajo hat Deutsch gelernt, als er 1992 als Kriegsflüchtling nach Weinsberg bei Heilbronn kam. Nach Kriegsende kehrte er in seine Heimat zurück – als Deutschlehrer. In die Bundesrepublik zurück möchte er nicht: „Jemand muss ja hierbleiben und den Menschen Deutsch beibringen. Sie gehen sowieso dorthin. Ich bin dann der Letzte, der das Licht ausmacht.“
Azra Keljalić bestätigt, dass die Hälfte ihrer Mitschüler inzwischen in Deutschland, Österreich und der Schweiz leben. Ein Studium begännen dort nur die wenigsten. Viele schlagen sich mit Hilfsjobs auf dem Bau oder in der Gastronomie durch. Keljalić will bleiben. Zum Software-Engineering-Studium ist sie ins von bosnischen Serben dominierte Banja Luka gezogen. Für eine Bosniakin ist das keine Selbstverständlichkeit.
Es geht auch anders: das Schulzentrum des heiligen Josef
Nicht alle Lehranstalten sind getrennt. Es gibt Europaschulen, in denen die Schüler gemeinsam unterrichtet werden. Eine davon ist das Schulzentrum des heiligen Josef in der Hauptstadt Sarajevo.
Der 68-jährige emeritierte römisch-katholische Weihbischof Pero Sudar gründete die Schule im November 1994, zu der Zeit, als Sarajevo von serbischen Einheiten belagert wurde. Er sagt: „Damals hagelten täglich Hunderte Granaten auf die Stadt und der Unterricht musste im Keller stattfinden. Und trotzdem hatten wir katholische, orthodoxe, muslimische und auch ein paar jüdische Schüler bei uns. Wenn man es will, dann geht es auch.“
Anfangs sollten nur katholische Kinder unterrichtet werden, um Anreize für bosnische Kroaten zu schaffen, um zu bleiben. Doch dann entschied Sudar mit seinen Kollegen, eine gemeinsame Schule aufzubauen: „Wir wollten ein Zeichen setzen. Für uns war die Eröffnung dieser Schule ein Protest dagegen, dass sich die Menschen in Sarajevo voneinander entfernen.“
An der Schule gibt es ein gemeinsames Fach Religionsgeschichte. Zusätzlich haben die Schüler Religionsunterricht oder Ethik. „Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch. Die Schüler können ihre Sprache nennen, wie sie wollen, und sie sich so ins Zeugnis eintragen lassen. Wir verstehen uns alle und das sollte wirklich kein Grund sein, die Kinder zu trennen“, sagt Sudar.
In Jajce schaut Azra Keljalić mit Stolz auf das Graffito an ihrer Schule: „Wir haben zusammen etwas aufgebaut und darauf sind wir stolz.“ Die Studentin kommt immer wieder nach Jajce und erzählt der jüngeren Generation von ihrem Kampf gegen Nationalismus und Trennung. Sie glaubt nicht, dass der Konflikt ausgekämpft ist. Sie ahnt, dass der Kanton wieder versuchen wird, die Jugendlichen zu trennen. Aber der Erfolg ihres Protests macht ihr Hoffnung: „Ich bin mir sicher, dass die Generation nach uns dann wieder dagegen auf die Straße gehen wird.“
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