Bootsunglück vor Tunesien: Humanitäre Krise am Mittelmeer
Über 16.000 Migranten lagern seit Monaten nahe der Hafenstadt Sfax. Bei einem verzweifelten Fluchtversuch sind mindestens 13 Menschen ertrunken.
SFAX taz | Bei einem Bootsunglück vor der tunesischen Hafenstadt Sfax sind am Donnerstag mindestens 13 sudanesische Geflüchtete ertrunken. Mindestens 27 Insassen eines nach Augenzeugenberichten 10 Meter langen Metallbootes werden noch vermisst. Die tunesische Küstenwache konnte bei der Rettungsaktion zwei Überlebende bergen, die in einem Krankenhaus wegen Unterkühlung behandelt wurden.
Wegen starkem Wind und einem Temperatursturz an der tunesischen Küste bleiben zur Zeit auch größere Fischerboote in den Häfen. Die lokalen Behörden halten die Überlebenschance der Vermissten trotz der anhaltenden Suche daher für sehr gering.
Das Unglück wirft ein Schlaglicht auf die wegen des Krieges in Gaza etwas in Vergessenheit geratene humanitären Krise rund um Sfax. Entlang des Küstenstreifens zwischen der 330.000-Einwohner-Stadt und dem Fischerort Al Amra harren seit dem Herbst mindestens 16.000 Migrant*innen und Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika, teils im Freien, aus. Die hygienischen Umstände in dem an ein offenes Flüchtlingslager erinnernden Gebiet sind katastrophal.
Zwischen der tunesischen Bevölkerung, der Polizei und den nach Nationalitäten getrennten Migrant*innen kommt es immer wieder zu Spannungen. Im Herbst wurde ein Beamter der Nationalgarde schwer verletzt, als Hunderte Menschen aus Sudan gegen die aus ihrer Sicht willkürlichen Verhaftungen und die Deportationen in die libysche und algerische Wüste demonstriert hatten.
Selbst in Tunesien ist nur wenig über die außer Kontrolle geratene Lage und die fast wöchentlich vermeldeten Bootsunglücke bekannt. Internationalen und lokalen Journalisten wurde es immer wieder untersagt, nach Al Amra zu fahren oder mit Migrant*innen zu sprechen. Mehrere Anfragen von europäischen Diplomaten und Parlamentsabgeordneten, sich vor Ort umzuschauen, wurden abgelehnt.
Keine Hilfsorganisationen im Einsatz
Die Sicherheitskräfte haben um die tagsüber auf den kilometerlangen Olivenhainen verteilt lebenden Menschen einen Ring an Kontrollpunkten errichtet. Mit dem baldigen Ende der Olivenernte und einer Wetterberuhigung scheint eine baldige Eskalation der Lage unabwendbar. Bislang konnten viele der Gestrandeten durch Arbeit als Tagelöhner auf den schier endlosen Feldern zumindest Lebensmittel und einen Platz in den völlig überfüllten Unterkünften zahlen.
„Wie die Politiker in Europa hatte die tunesische Regierung vielleicht auch gehofft, dass sich das Problem in Luft auflöst“
Hilfsorganisationen sind in dem Gebiet nicht im Einsatz, nur einige schwangere Frauen und medizinische Notfälle wurden offenbar von mobilen Teams der Organisation für Migration (IOM) betreut, wie die taz bei einem Besuch vor Ort erfuhr.
Menschenrechtsorganisationen wie auch die Bewohner*innen der Fischerdörfern der Region fragen sich, welche Strategie Präsident Kais Saied und die Regierung verfolgen. „Wie die Politiker in Europa hatten sie vielleicht auch gehofft, dass sich das Problem in Luft auflöst“, sagt der aus Sfax stammende Aktivist Wahid Dahech. Mit seiner Bürgerinitiative für eine Rückkehr demokratischer Verhältnisse und Rechtsstaatlichkeit in Sfax hatte der Tunesier ungewollt Gewalt gegen Migrant*innen ausgelöst.
Aus den Städten vertrieben
Nachdem Jugendgangs in sozialen Medien zahlreiche Menschen in Sfax gegen „die Afrikaner“ aufgehetzt hatten, beteiligten sich auch Nationalgarde und Polizisten an der „Säuberung“ der Handelsmetropole. Migrant*innen und Flüchtlinge wurden aus den von ihnen gemieteten Wohnungen und öffentlichen Parks vertrieben, in denen vor allem viele sudanesischen Kriegsflüchtlinge Zuflucht gefunden hatten.
Da es in Tunesien kein Asylrecht gibt, halten sich auch die aus Bürgerkriegsgebieten stammenden Inhaber von Flüchtlingsausweisen des UNHCR illegal im Land auf. Die für Flüchtlinge zuständige Organisation der Vereinten Nationen gibt zudem nur nach einem umständlichen Verfahren und vereinzelt Dokumente heraus.
„Das Resultat dieses Versagens auf mehreren Ebenen ist, dass nun alle zwischen Al Amra und Sfax hoffen, im Frühjahr nach Europa überzusetzen,“ sagt Wahid Dahech. „Wenn die Behörden, wie mit Italien vereinbart, weiterhin verhindern, dass Boote ablegen, müssen sich hier die Lebensumstände verbessern.“
Vor allem zwischen den täglich über Libyen und Algerien ankommenden Sudanesen, meist allein reisenden jungen Männern, und den tunesischen Schmugglern kommt es vermehrt zu Gewaltvorfällen. Die Überfahrten sind oftmals schon bezahlt, werden dann aber von den Schmugglern immer wieder abgesagt.
In dem Dorf Hmaydiya lebende sudanesischen Flüchtlinge übernehmen die Boote kurzerhand selber und legen ab. Nach Angaben von Migranten geschah dies auch am letzten Donnerstag. Trotz der widrigen Wetterverhältnisse auf dem Mittelmeer hatten sich die Sudanesen demnach aus Verzweiflung über die Zustände von einem Strand nahe des Dorfs Jebiniana auf den Weg über das Meer gemacht.
Leser*innenkommentare
Nobodys Hero
Es ist doch offenbar klar, daß diese Menschen nach Europa wollen. Ich verstehe nicht warum unsere Regierungen nicht Sonderflieger schicken um die Menschen hier in Sicherheit zu bringen wo sie ja nun mal auch einfach hinwollen.
vieldenker
Gibt es eine Lösung jenseits der Rückkehr in die Herkunftsländer? Letztlich haben alle Verantwortlichen in Europa und Tunesien Angst, falsche Anreize für weitere Asylsuchende zu setzen.
vergessene Liebe
@vieldenker Es gibt wohl keine Lösung von Rückkehr... allein weil die Anzahl der Klimaflüchtlinge durch die Erderwärmung in den Tropen zunimmt? 🙄🤔
tomás zerolo
Und so schiebt Festung Europa ihre Werte (Fremdenhass, Menschenverachtung) nach und nach in die Peripherie: zuerst an die Grenzländer (Griechenland, Italien, Spanien, z.T. Frankreich) durch den perfiden und grausamen Dublin-Mechanismus, jetzt mit Verträgen an die nordafrikanischen Länder.
Europas beliebtestes Exportartikel: Fremdenhass.
Europa, Deine Werte!
Nobodys Hero
@tomás zerolo Absolute Zustimmung, es ist wirklich zum heulen. Wir sollten nicht nur gegen Rechts protestieren sondern eher für eine erleichterte Aufnahme von Menschen in Not!*
sociajizzm
Die Situation ist bekannt, Anstrengungen diese zu beheben sind nicht zu erkennen, eher im Gegenteil.
Fazit: das Elend ist gewünscht.