Bootsunglück vor Tunesien: Humanitäre Krise am Mittelmeer
Über 16.000 Migranten lagern seit Monaten nahe der Hafenstadt Sfax. Bei einem verzweifelten Fluchtversuch sind mindestens 13 Menschen ertrunken.
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Wegen starkem Wind und einem Temperatursturz an der tunesischen Küste bleiben zur Zeit auch größere Fischerboote in den Häfen. Die lokalen Behörden halten die Überlebenschance der Vermissten trotz der anhaltenden Suche daher für sehr gering.
Das Unglück wirft ein Schlaglicht auf die wegen des Krieges in Gaza etwas in Vergessenheit geratene humanitären Krise rund um Sfax. Entlang des Küstenstreifens zwischen der 330.000-Einwohner-Stadt und dem Fischerort Al Amra harren seit dem Herbst mindestens 16.000 Migrant*innen und Flüchtlinge aus Subsahara-Afrika, teils im Freien, aus. Die hygienischen Umstände in dem an ein offenes Flüchtlingslager erinnernden Gebiet sind katastrophal.
Zwischen der tunesischen Bevölkerung, der Polizei und den nach Nationalitäten getrennten Migrant*innen kommt es immer wieder zu Spannungen. Im Herbst wurde ein Beamter der Nationalgarde schwer verletzt, als Hunderte Menschen aus Sudan gegen die aus ihrer Sicht willkürlichen Verhaftungen und die Deportationen in die libysche und algerische Wüste demonstriert hatten.
Selbst in Tunesien ist nur wenig über die außer Kontrolle geratene Lage und die fast wöchentlich vermeldeten Bootsunglücke bekannt. Internationalen und lokalen Journalisten wurde es immer wieder untersagt, nach Al Amra zu fahren oder mit Migrant*innen zu sprechen. Mehrere Anfragen von europäischen Diplomaten und Parlamentsabgeordneten, sich vor Ort umzuschauen, wurden abgelehnt.
Keine Hilfsorganisationen im Einsatz
Die Sicherheitskräfte haben um die tagsüber auf den kilometerlangen Olivenhainen verteilt lebenden Menschen einen Ring an Kontrollpunkten errichtet. Mit dem baldigen Ende der Olivenernte und einer Wetterberuhigung scheint eine baldige Eskalation der Lage unabwendbar. Bislang konnten viele der Gestrandeten durch Arbeit als Tagelöhner auf den schier endlosen Feldern zumindest Lebensmittel und einen Platz in den völlig überfüllten Unterkünften zahlen.
Wahid Dahech, Aktivist
Hilfsorganisationen sind in dem Gebiet nicht im Einsatz, nur einige schwangere Frauen und medizinische Notfälle wurden offenbar von mobilen Teams der Organisation für Migration (IOM) betreut, wie die taz bei einem Besuch vor Ort erfuhr.
Menschenrechtsorganisationen wie auch die Bewohner*innen der Fischerdörfern der Region fragen sich, welche Strategie Präsident Kais Saied und die Regierung verfolgen. „Wie die Politiker in Europa hatten sie vielleicht auch gehofft, dass sich das Problem in Luft auflöst“, sagt der aus Sfax stammende Aktivist Wahid Dahech. Mit seiner Bürgerinitiative für eine Rückkehr demokratischer Verhältnisse und Rechtsstaatlichkeit in Sfax hatte der Tunesier ungewollt Gewalt gegen Migrant*innen ausgelöst.
Aus den Städten vertrieben
Nachdem Jugendgangs in sozialen Medien zahlreiche Menschen in Sfax gegen „die Afrikaner“ aufgehetzt hatten, beteiligten sich auch Nationalgarde und Polizisten an der „Säuberung“ der Handelsmetropole. Migrant*innen und Flüchtlinge wurden aus den von ihnen gemieteten Wohnungen und öffentlichen Parks vertrieben, in denen vor allem viele sudanesischen Kriegsflüchtlinge Zuflucht gefunden hatten.
Da es in Tunesien kein Asylrecht gibt, halten sich auch die aus Bürgerkriegsgebieten stammenden Inhaber von Flüchtlingsausweisen des UNHCR illegal im Land auf. Die für Flüchtlinge zuständige Organisation der Vereinten Nationen gibt zudem nur nach einem umständlichen Verfahren und vereinzelt Dokumente heraus.
„Das Resultat dieses Versagens auf mehreren Ebenen ist, dass nun alle zwischen Al Amra und Sfax hoffen, im Frühjahr nach Europa überzusetzen,“ sagt Wahid Dahech. „Wenn die Behörden, wie mit Italien vereinbart, weiterhin verhindern, dass Boote ablegen, müssen sich hier die Lebensumstände verbessern.“
Vor allem zwischen den täglich über Libyen und Algerien ankommenden Sudanesen, meist allein reisenden jungen Männern, und den tunesischen Schmugglern kommt es vermehrt zu Gewaltvorfällen. Die Überfahrten sind oftmals schon bezahlt, werden dann aber von den Schmugglern immer wieder abgesagt.
In dem Dorf Hmaydiya lebende sudanesischen Flüchtlinge übernehmen die Boote kurzerhand selber und legen ab. Nach Angaben von Migranten geschah dies auch am letzten Donnerstag. Trotz der widrigen Wetterverhältnisse auf dem Mittelmeer hatten sich die Sudanesen demnach aus Verzweiflung über die Zustände von einem Strand nahe des Dorfs Jebiniana auf den Weg über das Meer gemacht.
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