Bombenanschlag in Istanbul: Wenn Schwurbler Popcorn essen
Die blitzschnelle Aufklärung des Istanbul-Anschlags lässt Fragen offen. Wenn die Realität zum Blockbuster verkommt, braucht es kein Geschwurbel mehr.
D er beste Nährboden für Verschwörungstheorien ist Unsicherheit, sagt man. Es sind die Krisen und Kriege und Terroranschläge, die dafür sorgen, dass sich immer mehr Leute für das obskure Geheimwissen interessieren, das uns die Regierungen angeblich vorenthalten.
Wissenschaft, Presse, Politik, sie alle seien gleichgeschaltet, hörte man in letzter Zeit lautstark aus der Schwurblerecke, die in einer Impfempfehlung inmitten der tödlichsten Pandemie seit 100 Jahren einen perfiden Plan von Bill Gates erkannten: Er wolle uns Chips einpflanzen, um uns zu kontrollieren. Sci-Fi am Limit.
Nicht selten fragte ich mich, wenn ich „Corona-Diktatur“ auf einem Transpi oder einer Statusmeldung las: Was würde mit diesen ganzen Schwurblern eigentlich passieren, wenn Wissenschaft, Presse und Politik hierzulande tatsächlich gleichgeschaltet würden? Würde ihr Wissensdrang sie dazu verleiten, den Vertuschungen eines autokratischen Regimes auf den Grund zu gehen? Wären sie der Keim eines ernstzunehmenden Widerstands?
Stereotyp des Querdenkers
Ich habe da meine Zweifel. Die Annahme, der durchschnittliche Verschwörungstheoretiker sei männlich, habe ein niedriges Einkommen und keinen hohen Bildungsabschluss, ist als Muster unbrauchbar – Verschwörungstheorien finden schließlich in allen Schichten Anschluss. Was aber die „Querdenker“ vor allem verbindet, sind gemeinsame Nenner mit einem antifeministischen („Lebensschutz“) und antisemitischen („Geheimorganisation“) Weltbild sowie der Hang dazu, die Realität als trashigen Blockbuster-Plot zu konsumieren.
Überträgt man dieses Stereotyp in die Türkei, kommt man beim klassischen AKP-Wähler an. Und dieser scheint kaum ein Problem damit zu haben, jede Story zu schlucken, die ihm von einer gesäuberten Presse aufgetischt wird. Oder auch vom Regierenden persönlich, der einen 1.000-Zimmer-Palast bewohnt, während die Inflationsrate in dem Land, das er regiert, derzeit auf 85 Prozent klettert (nach offiziellen Angaben).
Nach dem Bombenanschlag, der sich letzte Woche im Herzen Istanbuls ereignete und sechs Menschen tötete, dauerte es keine zehn Stunden, bis die vermeintliche Bombenlegerin geschnappt wurde. Ein aufwendig montiertes Video im Stil eines Actionthrillers zeigt aus verschiedenen Blickwinkeln, wie Antiterroreinheiten die Wohnung der Verdächtigen stürmen, um sie wenig später mit Hausschlappen und verprügeltem Gesicht zwischen zwei türkischen Fahnen der Presse zu präsentieren.
Fall geklärt, in einer Stunde
Nur eine Stunde nach ihrer Festnahme trat der Innenminister Süleyman Soylu vor die Kameras und kannte bereits die Identität der Auftraggeber und den Hergang des Anschlags. Nur eine Stunde, und der Fall war so gut wie abgeschlossen. Natürlich sollen es die Kurden gewesen sein. Natürlich wolle man Vergeltung.
Beängstigend ist daran nicht nur, mit welcher Geschwindigkeit ein Narrativ gestrickt wurde, das erhebliche Zweifel aufkommen lässt. Beängstigend ist vor allem, wie nützlich diese Geschichte für eine Regierung ist, die bei den Wahlen nächstes Jahr laut aktueller Umfragen ihre Mehrheit verlieren könnte, und nun auf ihre erprobten Wahlkampfmethoden zurückgreifen kann: Angst, Nationalismus, Krieg.
Wir erinnern uns, im Juni 2015 war man schon einmal unzufrieden mit dem Wahlergebnis. Damals setzte in der Türkei eine beispiellose Anschlagsserie ein, die bis zu den Neuwahlen im November 2015 mehrere hundert Menschen das Leben kostete. Im Jahr darauf wurde ein Putschversuch abgewendet, der folgende Ausnahmezustand brachte kritische Stimmen systematisch hinter Gittern.
Und doch käme die AKP nach jetzigem Stand auf fast 40 Prozent der Stimmen. Wenn die Realität tatsächlich zum Blockbuster-Plot verkommt, scheinen die Schwurbler sich eben zurückzulehnen und bloß Popcorn zu essen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen