Bolivien nach Morales' Rücktritt: Senatorin wird Interimspräsidentin
Nach der Flucht von Evo Morales ins Exil hat sich die Oppositionelle Jeanine Áñez zu seiner Nachfolgerin erklärt. Ihr bleiben 90 Tage für Neuwahlen.
Áñez kündigte an, sie werde so bald wie möglich Neuwahlen ausrufen. Laut Verfassung ist sie dazu binnen 90 Tagen auch verpflichtet. Sie werde „dem Land die Demokratie zurückgeben“, sagte sie bei einer Ansprache auf dem Balkon des Palacios. Dabei trug sie die Präsidentenschärpe und die Bibel in der Hand.
„Die Bolivianer verdienen es, in Freiheit zu leben, in Demokratie, und dass ihnen nie wieder ihre Stimme geraubt wird“, sagte sie in Bezug auf den Wahlbetrug, in dessen Folge Präsident Evo Morales seinen Rücktritt erklärt hatte. „Diese Bibel ist sehr bedeutsam für uns, unsere Kraft ist Gott, die Macht ist Gott.“
Die Oppositionspolitikerin Áñez (Movimiento Demócrata Social) war bis dahin zweite Vizepräsidentin des Senats. Laut Verfassung musste sie vorübergehend die Amtsgeschäfte übernehmen, weil alle in der Reihenfolge vor ihr stehenden – Präsident, Vizepräsident und die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern – ihren Rücktritt erklärt hatten.
Machtvakuum soll vermieden werden
Zuvor hätte der Senat sie am Dienstagnachmittag zur Senatspräsidentin wählen müssen. Doch dafür fehlte das nötige Quorum: Die meisten Senatoren der Morales-treuen MAS-Partei boykottierten die Sitzung. Sie haben im Senat die Mehrheit. Daraufhin erklärte sich Áñez selbst zur Übergangspräsidentin: „Durch die endgültige Abwesenheit des Präsidenten und Vizepräsidenten übernehme ich als Vorsitzende der Senatorenkammer, wie es in der verfassungsmäßigen Ordnung vorgesehen ist, sofort die Präsidentschaft“, sagte die Anwältin aus der Region Beni.
Der bisherige Präsident Evo Morales nannte ihre Amtsübernahme auf Twitter den „heimtückischsten und schändlichsten Staatsstreich der Geschichte“. Er befindet sich mittlerweile in Mexiko und hat dort politisches Asyl erhalten.
Verfassungsrechtlich gesehen sei Áñez' Handeln legal, sagt der auf Verfassungsrecht spezialisierte Anwalt Rigoberto Paredes. Es sei nicht nötig, dass das Parlament Morales' Rücktrittserklärung offiziell annehme. Das sieht der Verfassungsartikel 161 eigentlich vor, um einen Rücktritt tatsächlich in Kraft zu setzen. Aber weil die Vertreter von Morales' Bewegung zum Sozialismus (MAS) der Sitzung fernblieben, war das Parlament nicht beschlussfähig.
Der Artikel 170 der Verfassung allerdings nennt vier Gründe, die das Präsidenten-Mandat beenden. Auf Morales treffe die „endgültige Abwesenheit“ zu: Er hat schriftlich seinen Rücktritt erklärt, das Land verlassen und Asyl erhalten. Eine – laut Anwalt Paredes in Bolivien bis dahin recht unbekannte – Erklärung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2001 legt die präsidiale Nachfolge fest. In der Erklärung steht unter anderem, dass in diesem Fall keine Zustimmung des Kongresses nötig ist. Um ein Machtvakuum zu vermeiden, gilt das Prinzip der Unverzüglichkeit.
Angst vor gewalttätigen Zusammenstößen
Die Verfassungserklärung stammt noch aus der Zeit vor der aktuellen Verfassung, was Verfassungsrechtler noch beschäftigen könnte. Allerdings hatte der oberste Gerichtshof noch am Dienstag die Unverzüglichkeit bestätigt – darauf stützt sich Añez.
Um später Neuwahlen auszurufen, brauche Áñez keine Mehrheit im Parlament, sagt Anwalt Paredes. Das Verfassungsgericht bestätigte Jeanine Áñez am Dienstagabend als Übergangspräsidentin.
Einer der Wortführer der Opposition, der Anführer des Bürgerkomitees der Stadt Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, hatte am Morgen seine Anhänger*innen aufgefordert, sich in der Nähe des Parlaments einzufinden, um ihre Unterstützung während der Abstimmung zu zeigen. Camacho hatte kurz nach der Wahl von Santa Cruz aus einen unbefristeten zivilen Streik ausgerufen und den Rücktritt des Präsidenten gefordert. Den Streik will er am Mittwoch bei einer Kundgebung in La Paz für beendet erklären.
Auch Morales-Anhänger*innen kamen aus der Nachbarstadt El Alto herab. Die Angst vor gewalttätigen Zusammenstößen wuchs. Die Polizei sperrte den Bereich um das Regierungsviertel in La Paz. Am Nachmittag kreisten Militärflieger über der Stadt.
Gerüchte um Plünderungen
Am Dienstagnachmittag öffneten wieder einige Geschäfte und Lokale im Zentrum, die sich am Montag aus Angst vor Plünderungen verbarrikadiert hatten. Die Nachbarschaften hielten ihre Blockaden in den Straßen und ihre Wachen an Wohnanlagen aufrecht. Es kursierten immer wieder Gerüchte über Whatsapp, dass Anhänger*innen von Evo Morales zum Plündern kommen würden. Es waren viele Falschmeldungen darunter.
Nach der Proklamation von Jeanine Áñez waren in der Stadt Explosionen zu hören, vermutlich zur Feier gezündete Böller. Im Zentrum verbarrikadierten sich daraufhin wieder einige Läden zur Sicherheit. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft sind in den Unruhen nach den Wahlen am 20. Oktober bislang sieben Menschen gestorben.
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