Biolehrerin über veraltete Schulbücher: „Nicht nur Scheide oder Vagina“
Die Klitoris war in Schulbüchern unvollständig abgebildet. Nach Kritik der Lehrerin Sina Krüger wurden viele Darstellungen erneuert.
taz: Frau Krüger, endlich ist eine vollständige Klitoris in den Lehrbüchern der Verlage Klett, Westermann und Cornelsen abgebildet. Wie fühlt es sich an?
Sina Krüger: Das ist super! Ich freue mich riesig. Es ist sehr wichtig, dass das weibliche Geschlechtsorgan korrekt abgebildet ist. Dass Mädchen und junge Frauen ihren Körper in Schulbüchern angemessen repräsentiert finden und sie sich mit der Sexualität, die abgebildet ist, auch identifizieren können.
Welche der Abbildungen finden Sie denn am besten?
Auch wenn alle drei Verlage endlich die Klitoris als Organkomplex darstellen, haben sie sich unterschiedlich viel getraut. Die Abbildungen von Cornelsen und Klett finde ich gelungener, der Klett Verlag bildet die Klitoris am genauesten ab. Zusätzlich zur Abbildung der Klitoris im Querschnitt veranschaulichen beide Verlage die Vulva anhand einer Frontalansicht. Das ist eine realistische Perspektive, die dem ähnlich ist, was Mädchen und junge Frauen sehen, wenn sie sich zwischen die Beine schauen.
Sie hatten auch die Sprache in den alten Büchern kritisiert. Wie sprachsensibel sind die neuen Auflagen?
Niemand sollte sich für seine Vulva schämen. „Schamlippen“ ist sehr negativ konnotiert. Der Verlag Klett hat in seinen neuen Abbildungen sogar den sprachsensiblen Begriff der „Vulvalippen“ verwendet – das freut mich am meisten, weil ich nicht gedacht hätte, dass sie diesen Schritt gehen. Für mich ist der Verlag damit mutiger als die anderen, weil das Wort Vulva bei vielen noch gar nicht so etabliert ist. Aber das weibliche Geschlechtsorgan heißt eben nicht einfach nur Scheide oder Vagina, weil es eben mehr ist als nur diese Öffnung, dieser Muskelschlauch.
Keine korrekte Abbildung
In keinem Biologieschulbuch der Verlage Cornelsen, Klett und Westermann ist die Klitoris vollständig abgebildet – das ergab eine taz-Recherche im März 2020. In den Lehrwerken war lediglich ein Punkt oder ein tropfenförmiges Etwas zu sehen, das den externen Teil der Klitoris darstellen sollte, die sogenannte Klitoriseichel. Der zehnmal so große innere Teil des Organs wurde ignoriert. Nicht nur die bildliche Darstellung war irreführend, auch die Beschreibung. In den Lehrbüchern wurde die Klitoris als eine „Perle“ oder als „erbsengroß“ beschrieben.
40 Bücher untersucht
Über mehrere Monate hinweg wurden Schulbuchlisten in ganz Deutschland durchsucht. Von allen Schulbuchverlagen deutschlandweit geben nur die Verlage Klett, Westermann und Cornelsen Biologiewerke in jedem Bundesland heraus. Daraufhin wurde in über 40 Biologieschulbüchern der drei Verlage untersucht, wie sie die Klitoris darstellen. Angestoßen wurde die Recherche durch eine Petition in Frankreich: Die Aktivistin und Buchautorin Julia Pietri fordert zusammen mit feministischen Verbänden seit dem 8. März 2019, dass die Klitoris in französischen Schulbüchern korrekt abgebildet wird.
Erste Erfolge
Seit Herbst 2019 ist das Organ in Frankreich in fünf von insgesamt sieben Schulbüchern vollständig dargestellt. Schon im Laufe der Recherche zur Abbildung in deutschen Schulbüchern haben die Verlage Cornelsen und Westermann angekündigt, ihre Abbildungen zu überarbeiten. Der Klett Verlag hingegen verwies darauf, sich an die vorgegebenen Bildungsziele der jeweiligen Bundesländer zu halten. Seitdem haben jedoch alle drei Verlage die Abbildungen in ihren Biologiebüchern überarbeitet.
Sprachsensibel bedeutet auch, nicht mehr von „kleinen und großen Schamlippen“ zu sprechen – das haben sogar alle drei Verlage umgesetzt. „Innere und äußere“ ist fachlich korrekt und lässt mehr Spielraum für Individualität, denn Vulvalippen sind sehr unterschiedlich. Außerdem geht Cornelsen auf die sexuelle Erregbarkeit der Klitoris ein. Sie wird als Schwellkörper beschrieben und mit dem Penis verglichen. Damit wird den Schüler:innen vermittelt, dass es beim Sex eben nicht nur um „Penis wird in Vagina eingeführt“ geht, sondern auch darum, dass die Klitoris eine hocherogene Zone ist.
Und bei Westermann?
Da ist noch Luft nach oben. Die Klitoris wird weder als Organkomplex mit Schwellkörpern beschrieben, noch wird ihre Rolle für die sexuelle Lust weiter erläutert. Aber immerhin ist sie jetzt nicht mehr ein Punkt, eine Erbse oder ein Halbmond, sondern ein eigenständiges Organ, das zum weiblichen Geschlecht dazugehört.
Meinen Sie, dass durch diese Abbildungen bestimmte Mythen in Hinsicht auf weibliche Sexualität abgebaut werden können?
Abbildungen alleine reichen nicht, dazu gehören fachlich korrekte und sprachsensible Texte. In den neuen Auflagen schreibt Cornelsen tatsächlich: Man könne am Jungfernhäutchen nicht erkennen, ob eine Frau penetrativen Sex hatte oder nicht. Und: Nicht alle Frauen würden beim ersten Mal bluten. Ich bin sehr begeistert, denn so räumt das Buch mit diesen Mythen auf.
Sie fordern doch, dass die Verlage den Begriff „Jungfernhäutchen“ streichen.
Das Wort „Jungfernhäutchen“ ist zwar irreführend, aber Kinder und Jugendliche kennen es schon. Deswegen ist es sinnvoll, den Begriff aufzugreifen, um zu erklären, warum er im wörtlichen Sinne falsch ist. Es gibt bei einem gesunden Menschen keine Haut, die die Vagina verschließt. In dieser Hinsicht finde ich den Text von Cornelsen besonders gut, weil sie zwar das Jungfernhäutchen ansprechen, aber trotzdem das Fachwort „Hymen“ einführen, welches sprachsensibel und fachlich korrekt ist.
In älteren Auflagen steht noch immer, die Klitoris sei erbsengroß. Welchen Einfluss hat das auf das Verständnis vom eigenen Körper bei Mädchen und jungen Frauen?
Wenn man glaubt, dass das einzige Organ, das für sexuelle Erregbarkeit zuständig ist, so groß wie eine Erbse ist, dann misst man dem eine ganz andere Bedeutung zu, als wenn man weiß, dass die Klitoris ein rund zehn Zentimeter langer Organkomplex mit Schwellkörpern ist.
Gerade für Jugendliche, die ihre Sexualität entdecken, ist es bestimmt sehr beeindruckend zu erfahren, dass Frauen ein Organ haben, das nur für sexuelle Lust und schöne Gefühle zuständig ist. Zudem ist es für ein sexualbejahendes und positives Sexualleben wichtig zu wissen, wie man sich selbst stimulieren kann. Wie schön es doch wäre, wenn sich die eigene Körperwahrnehmung mit dem erklären lässt, was man in der Schule lernt.
27, ist Lehrerin für Biologie und Sport in Berlin. In ihrer Masterarbeit schrieb sie über die Darstellung des weiblichen Genitalbereichs in Schulbüchern.
Können denn Abbildungen in Schulbüchern wirklich so viel bewirken?
Schulbücher haben einen hohen Stellenwert im Unterricht. Wenn es im Schulbuch steht, scheint es etwas Wichtiges zu sein. Es schafft einen Raum für Schüler:innen, sich zu trauen, Fragen über sexuelle Lust und das weibliche Geschlecht zu stellen. Das kann Mythen und gesellschaftlichen Druck abbauen und so zu einer besseren sexuellen Gesundheit bis ins Erwachsenenalter beitragen.
Außerdem hat es viel mit Repräsentation und Gleichstellung zu tun. Das männliche Geschlecht ist im Alltag viel präsenter als das weibliche. Mit der richtigen Repräsentation im Schulbuch kommen wir zumindest von der Vorstellung weg, dass es einerseits einen großen, starken Penis und andererseits nur ein Loch zwischen den Beinen gibt, hin zum Wissen von zwei einzigartigen und unterschiedlichen Sexualorganen. Das kann Selbstbewusstsein schaffen.
Was würden Sie Lehrkräften empfehlen, die sexuelle Bildung unterrichten?
Nicht nur mit Büchern zu arbeiten! Bildet euch weiter, nutzt Fortbildungsangebote, schaut bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), bei Pro Familia oder bei Vielma oder auf Instagram bei @the.vulva.gallery vorbei, hier zeichnet Hilde Atlanta vielfältige Vulven. Damit kann man die Schüler:innen ganz anders abholen.
Liegt es also an den Lehrkräften, sich von den veralteten Darstellungen zu entfernen?
Die Lehrkräfte sind final für ihr Unterrichtsmaterial zuständig. Wenn ich das Material sehe und nicht dahinterstehe, dann muss ich es selbst gestalten oder recherchieren. Das kostet Zeit und Geld. Aber wenn man möchte, dass Schüler:innen adäquat gebildet und Vorstellungen von körperlichen Intimidealen abgebaut werden, sollte man diese Mehrarbeit auf sich nehmen.
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