Biografie von Siegfried Kracauer: Erfahrung des Übergangs
Freundschaft, Theorie und Exil prägten das Leben des Intellektuellen Siegfried Kracauer. Zum 50. Todestag erscheint die erste große Biografie.
Wer war Kracauer? Sein bekanntestes, im New Yorker Exil geschriebenes Buch, „From Caligari to Hitler“, erschien 1958 auf Deutsch, auf die Hälfte zusammengekürzt und politisch entschärft. Aber das geistige Klima begann sich in den frühen sechziger Jahren zu verändern; in kurzer Folge kamen als Teil der Suhrkamp-Kultur die Essaysammlung „Das Ornament der Masse“ (1963) und „Theorie des Films“ (1964) auf den deutschen Markt. Man rezipierte den 1889 geborenen Kracauer wie einen Zeitgenossen. Das ist heute nicht mehr möglich.
Jörg Später hat zum 50. Todestag Kracauers eine detailreiche, empathische Biografie veröffentlicht, die einem Regale von Sekundärliteratur erspart. Zeit und Raum, in denen sich Kracauers Leben bewegte, werden akribisch ausgeleuchtet. Auch dem Nachleben Kracauers in den Wissenschaften wird ausführlich nachgegangen.
Später bewegt sich kenntnisreich in dem umfangreichen Material; er schmiegt sich an den reaktiven Gestus des Biografierten an, der ein Vielleicht dem bestimmten Urteil vorzog. So fällt ein mildes Licht auf die von Adorno monierte Theorieschwäche Kracauers, die ein zentraler Konflikt in dieser „troubled friendship“ (Martin Jay) war.
Adorno betitelte 1964 einen Radioessay zum 75. Geburtstag Kracauers „Der wunderliche Realist“. Nicht nur deswegen war der Jubilar ziemlich verstimmt. Er wollte sich nicht in dem Bild wiedererkennen, das Adorno für ihn vorgesehen hatte. Und er vermied panisch Altersangaben.
Eine wunderliche Freundschaft
Kracauers Sehnsucht nach Exterritorialität hat Adorno 1966 in seinem Nachruf auf den Exilierten, der nur noch zu Besuch nach Deutschland kam, verraten. Dieser Wunsch, sich jenseits von Raum und Zeit zu bewegen, kann tatsächlich zum Schlüssel werden, um ein bewegtes Leben zu entziffern.
Kracauer, 14 Jahre älter als das Wunderkind Teddie Wiesengrund, lernte ihn als Sekundaner am Ende des Ersten Weltkriegs kennen. Zwischen Schüler und Lehrer entwickelte sich eine innige Nähe, die vielen Zerreißproben ausgesetzt war. Die Freundschaft dieses ungleichen Paares trug wunderliche Züge. Ihr philosophisches Lernen war auf existenzielle Weise mit den Entwürfen eines richtigen Lebens verknüpft. Ihre Beziehung schwankte zwischen pädagogischem Eros, Verliebtheit, Eifersucht, Gekränktsein und Konkurrenz.
Adorno hatte Kracauer nicht nur einen intimen Zugang zur Philosophie, sondern auch zum Schreiben zu verdanken. Kracauer, unglücklich mit seinem Brotberuf des Architekten, fand 1921 in der Frankfurter Zeitung einen geistigen Beruf, zunächst als Lokalreporter, dann als Filmkritiker und als Feuilletonredakteur. Adorno, noch unentschieden zwischen Musik und Philosophie, suchte noch seinen Weg. Eine Universitätskarriere galt damals keineswegs als selbstverständlich, für Juden schon gar nicht.
Unsichere Leben
Für seine Freunde und Bekannten wurde der Redakteur der Frankfurter Zeitung eine wichtige Bezugsperson; er verschaffte ihnen Publikations- und Verdienstmöglichkeiten. Das in jeder Hinsicht unsichere Leben der Intellektuellen zur Weimarer Zeit führt Später dem Leser eindringlich vor Augen. So nur lässt sich die Atmosphäre von Eifersucht, Angst vor Plagiaten und rigorosen moralischen Ansprüchen erfassen. „Karrierist“ hieß das schlimmste Schimpfwort.
Krac, wie er sich gerne nennen ließ, zog Autoren wie Benjamin und Bloch in seine Zeitung. Aber der umworbene Redakteur konnte es nicht allen recht machen. Der aufstrebende Star der Frankfurter Universität, Max Horkheimer, Direktor des gerade gegründeten Instituts für Sozialforschung, fühlte sich von Krac schlecht behandelt. Die Annäherung seiner jungen Freunde Adorno und Löwenthal an das Institut beobachtete Krac mit Misstrauen.
Krac selbst hatte früh die Soziologie als Wissenschaft für sich entdeckt. Scheler und Simmel beschäftigten ihn schon zu Kriegszeiten. Sein eigenes soziologisches Vermögen erprobte er 1930 in einer kleinen Schrift, „Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland“. Was er schon in vielen Feuilletons seismografisch aufgezeichnet hatte, die tektonische Verschiebung der Klassengesellschaft, verdichtete er zu einer genauen Beschreibung der Angestelltenkultur, weder kleinbürgerlich noch proletarisch. Zwei Jahre zuvor hatte er anonym seine erstaunlichste Publikation vorgelegt: „Ginster. Von ihm selbst geschrieben“.
Joseph Roth hatte sofort die Bedeutung dieses Buchs erkannt, das als schlichte Autobiografie missdeutet würde. Das Individuum Ginster verschwindet hinter der Erfahrung des Übergangs, zutiefst in die Gegenwart versenkt und zugleich exterritorial die Gesellschaft abwartend beobachtend. Der Zeitgeist lässt sich mit Händen greifen. Der Roman „Georg“ sollte anschließen; aber die Machtübernahme der Nazis kostete Kracauer seinen Job als Pariser Auslandskorrespondent der Frankfurter Zeitung und raubte dem Buch den Markt. „Georg“ erschien erst posthum.
Der unkittbare Riss
Ohne Einkommen fand sich Kracauer im französischen Exil wieder. Auf keinen Fall wollte er sich ans Institut für Sozialforschung anbiedern, dessen Stiftungsvermögen Horkheimer vorausschauend ins Ausland verlagert hatte. Löwenthal und Adorno versuchten, ihm Aufträge zuzuschanzen. Doch der redaktionelle Umgang war alles andere als erfreulich; Kracauers Studie über faschistische Propaganda überarbeitete Adorno bis zur Unkenntlichkeit. Die theoretischen Differenzen wurden mit Unerbittlichkeit ausgetragen.
Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt mit der Veröffentlichung von „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“, einer „Gesellschaftsbiographie“, mit der Kracauer einen finanziellen Erfolg landen zu können hoffte. Adorno warf ihm „Verrat“ an gemeinsamen schriftstellerischen Überzeugungen vor. Der Riss in der Freundschaft ließ sich nie mehr kitten, auch wenn Löwenthal und Adorno sich sehr bemühten, Kracauer in die USA zu holen.
Jörg Später: „Siegfried Kracauer. Eine Biographie“. Suhrkamp, Berlin 2016, 744 Seiten, 39,95 Euro.
Nachdem die Kracauers im letzten Augenblick 1941 das lebensrettende Ufer des East River erreicht hatten, schlug er sich mit Projekten, Gutachten und Stipendien durch. Seine Frau hangelte sich von einem Job zum anderen.
Beobachter des Nebeneinander
Für das Paar ging es um das nackte ökonomische Überleben; kaum vorstellbar sind die psychischen Belastungen durch die gescheiterten Versuche, engste Verwandte und Freunde vor der Ermordung in Europa zu retten. Kracauer fand Unterschlupf im Filmarchiv des MoMA; seine Studien über den deutschen Film entstanden als Beitrag zum antifaschistischen Kampf.
Es dauerte fast zwei Jahrzehnte, bis sich Kracauer in seinem Emigrationsland USA so weit etabliert hatte, dass er seine großen theoretischen Arbeiten, „Theorie des Films“ (1964) und „History. The Last Things Before the Last“, abschließen konnte. Die Differenz zur Kritischen Theorie Adornos fällt ins Auge; Kracauer bleibt ein genauer Beobachter des Nebeneinander von Allgemeinem und Besonderem. Eine dialektische Vermittlung versucht er nicht.
Deutschland gegenüber blieb Kracauer bis zum Schluss misstrauisch, enttäuscht auch über das Verhalten alter Bekannter zur Nazizeit. Hinter jedem Hausmeister und jedem Nachbarn könnte ein alter Nazi stecken, vermutete er. Kurz vor seinem Tode 1966 war er Gast des Symposions „Poetik und Hermeneutik“ in Lindau, eingeladen und aufmerksam betreut von Professor H. R. Jauß. Eine bittere Ironie der Geschichte: Die prominente SS-Vergangenheit des berühmten Romanisten war damals noch unbekannt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül