Bildungspolitik im Wahlkampf: Streiken und Besetzen
Bildungspolitik kommt im Wahlkampf zu kurz. Bisweilen liegen gerade hier die Parteienvorstellungen weit auseinander. Und es braucht neue Ideen.
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E in Thema hat in all diesen Triellen keine Rolle gespielt: Schule und Bildung. Und das ist erstaunlich, denn weniges hat ein Jahr lang Millionen von Familien und Hunderttausende von Lehrern mehr gequält. Und kaum ein Thema hätte sich besser zum Streiten geeignet. Auf der einen Seite die nationalmeritokratische Fraktion – etwa der FDP: Wir brauchten „die weltbeste Bildung“, die früheste Förderung, um „die Leistungsbereitschaft eines jeden zu entfesseln, damit der Wohlstand in Deutschland zu Hause bleibt“.
Am entgegengesetzten Pol die ewigen reformpädagogischen Ideen von Ganztagsschule „mit mehr Zeit zum Lernen, ohne die Angst vorm Scheitern“, mehr Lehrerinnen und Lehrern, „ganzheitlicher Bildung, wo jedes Kind ein Instrument erlernen, Theater spielen, Schwimmen lernen kann“. Im Augenblick fließt Geld für die schnelle Digitalisierung, die als pädagogische Wunderwaffe propagiert wird. Eine neue Bildungsidee müsste sehr viel weiter ausgreifen.
Natürlich brauchen wir Grundfertigkeiten und Wissen, um zu verstehen und gestalten zu können: als Klempnerin oder Sozialarbeiter, Arzt oder Polizistin, Pfleger oder Ministerin. Vieles von diesem Wissen lässt sich mit der Hilfe von Software aneignen. Das schafft Raum.
Denn angesichts einer Zukunft voller Engpässe, zunehmender Verteilungskämpfe, wachsender Ohnmachtsgefühle, angesichts der Angriffe der Medienindustrie auf Lebenszeit und Gemüt wird es zur vornehmlichen Aufgabe der Schule, die Fähigkeiten zur Selbstständigkeit, zur Balance von Selbstsorge und Gemeinwohl zu entwickeln, zum Mut, Neues zu wagen.
Alle Pädagogik seit Sokrates, Comenius, Rousseau und Pestalozzi hat auf die Schule als Sozialraum gesetzt, als Ort, an dem ich auf Erwachsene treffe – Lehrer und möglichst auch andere –, die mich fordern, die mich überraschen, Persönlichkeiten, an denen ich mich abarbeite, die mir etwas vormachen, vorlegen, vorleben. Die meine Leidenschaft oder meinen Widerstand entzünden.
Vieles an der Organisation des Lernwesens bremst solche Lehrer aus, Rahmenpläne sehen so etwas wie Charakterbildung (sorry für das alte Wort) nicht vor. Das Beste wäre also, so schlägt es Gerald Hüther in seinem neuesten Buch vor, die Schule würde sich auf das konzentrieren, „was sie auch bisher schon gemacht (hat): Aufbewahrung, Unterricht, Leistungskontrollen, Vergabe von Zertifizierungen und Abschlüssen“. Zur Berufsschule werden also.
Es wäre dann nicht mehr Aufgabe des Lehrers, die Heranwachsenden dazu zu befähigen, „ein gelingendes, sinnerfülltes und glückliches Leben“ zu führen.
Wenn die Schule ihr Kerngeschäft ordentlich macht – die begeisterungsfreie Wissensvermittlung –, dann könnte, so die Konsequenz, alles, was man klassischerweise Menschenbildung nannte, was jetzt Potenzialentwicklung heißt, am besten den Kindern selbst überlassen bleiben oder von denen erledigt werden, die es mit Lust und Liebe und Zeit machen – oder als Geschäftsfeld entwickelt haben: in den Workshops und Events und Summercamps der Kreativitätsindustrie.
Tingeltangel den Profitsendern überlassen
Die Sparten Wissen und Werte zu trennen, das Schwarzbrot dem Staat und den Glanz der freudigen Erfahrungen privaten Unternehmern zu überlassen. Die Logik, die hinter derlei Abhilfen steht, ist dieselbe, mit der Wirtschaftsliberale und Großverleger dem öffentlichen Rundfunk oktroyieren möchten, er solle sich auf das informationelle Schwarzbrot, also auf die Vermittlung von Kultur, Wissenschaft und Nachrichten beschränken – und die Unterhaltung, den Fußball und das Tingeltangel den Profitsendern überlassen.
Aber solches Outsourcen führt dazu, das tragende Institutionen im Kern immer schlanker werden, das gilt für Krankenhäuser wie für Schulen und für die Demokratie insgesamt. Gesellschaftliche Erschütterungen werden immer von Umbrüchen im System der öffentlichen Erziehung begleitet.
Zuletzt war das in den sechziger Jahren der Bonner Republik der Sputnik-Schock, der mit dem industriekapitalistischen Schreck über die Unterversorgung mit qualifizierten Arbeitskräften und der sozialdemokratische Forderung nach Chancengleichheit eine brisante und folgenreiche Mischung einging.
Wieder stehen wir am Beginn einer neuen Epoche, und ein Bewusstsein, zumindest ein Gefühl ist weit verbreitet, dass wir ihre Herausforderungen nicht mit zwei Wochenstunden Nachhaltigkeit und ein wenig weniger Autofahren, nicht mit zwei Euro mehr für Pflegekräfte, nicht mit moderaten Mietenstopps und nicht mit der alten Exportstrategie meistern werden.
Eine Schule, die nicht bloß den technopopulistischen Werbesprüchen der Lehrmittelindustrie folgen will, müsste ihre Neubestimmung aus diesen Herausforderungen der Epoche gewinnen. Neu erfinden muss man gar nicht so viel: Es gibt großartige Schulen, nicht nur die Elite-Institute, die gut ausgestattet sind und weit geöffnet für Erfahrungen, mit Schulleitern, die ihre Autonomiespielräume nutzen, mit Neuauflagen einer wirklich humanistischen, also polytechnischen wie musischen Pädagogik.
Freitagsstreiks der Schüler haben viel bewirkt
Wo bleibt angesichts dessen eine neue Lehrerbewegung? Der letzte größere Umbruch in Deutschland begann 1969 mit Streiks. Den Septemberstreiks bei Hoesch, den Unruhen an den Unis. Aus den Streiks wurden an vielen Orten Inbesitznahmen: Kritische Universitäten, Laborschulen, Neugründungen, Jugendzentren. In den vergangenen Jahren haben die Freitagsstreiks der Schüler viel gedreht. Viele der Aktivsten wissen aber auch, dass dieses Format sich erschöpft.
Die Bildungsanstalten zukunftstauglich zu machen, mit freundlichen, aber bestimmten Mitteln, und das nicht nur freitags, sondern auch an den anderen Wochentagen – das könnte die nächste Stufe sein. Soziale Bewegungen und Veränderungen der Schule gehen Hand in Hand. Direkt oder subversiv.
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