Bildungsgerechtigkeit in Berlin: Großes Stühlerücken
Wegen Sparvorgaben soll Neukölln Räume in Grundschulen anderweitig vergeben und Schulplätze abbauen. Lehrer*innen fordern Platz für gute Bildung.
Doch der Bezirk muss sparen. Neukölln will deshalb nun Schulplätze abbauen und im Norden Teile von Grundschulen anders nutzen. In die Rixdorfer Grundschule etwa soll zum Schuljahr 25/26 die Neuköllner Volkshochschule (VHS) einziehen. In der Eduard-Mörike-Grundschule soll noch in diesem Jahr die Jugendkunstschule Platz finden. Dafür soll die Schule nun vier Räume frei machen.
Lehrer*innen und Elternverbände an den Schulen sind alarmiert und fühlen sich überrumpelt. „In der stressigsten Zeit des Schuljahres kriegen wir von der Schulaufsicht eine Blutgrätsche“, sagt Christian Jessen, Lehrer der Eduard-Mörike Grundschule, im Hauptausschuss. „Wir haben keine Überkapazitäten – im Gegenteil. Es ist jetzt schon schwierig, einen Raum für Elterngespräche oder Einzelförderung zu finden.“
Christian Jessen, Grundschullehrer
Die Planung gehe völlig daran vorbei, dass die Schulen in Nordneukölln in beengten Kiezen liegen. „Und die Kinder hier haben teils besondere Bedürfnisse“, sagt er. Die formelle Rechnung des Bezirks gehe nicht auf. „Die Räume werden genutzt – wir brauchen diese Plätze“, sagt Jessen.
Eltern ärgern sich
Auch an der Rixdorfer Grundschule ist der Ärger groß. Bereits jetzt nutzt die VHS die dortige Turnhalle für Kurse. Mit ihrem dauerhaften Einzug würden nicht nur Räume für den Unterricht, sondern auch für Gruppen, die diese außerhalb der Unterrichtszeit nutzen, dauerhaft verloren gehen, kritisiert Melike Çınar aus dem Vorstand der Gesamtelternvertretung.
Neben der praktischen Umsetzung haben die Eltern auch Zweifel, was den Kinderschutz betrifft. „Wir sehen das Recht unserer Kinder auf faire Bildung und ihre körperliche und seelische Gesundheit durch Pläne des Bezirks erheblich bedroht“, schreibt die Elternvertretung in einem offenen Brief an den Bezirk. Korte solle die Pläne zurücknehmen. Ein Konzept für die VHS dürfe nicht zulasten der Schwächsten im Bezirk gehen.
Hinter dem Vorstoß der Stadträtin liegen Sparvorgaben aus dem Senat. Im Vergleich mit anderen Bezirken liegen die Nebenkosten und die Kosten für Gebäude in Neukölln insgesamt bei 53 Euro pro Schüler*in über dem Berliner Mittel. Besonders hoch ist der Unterschied bei den Grundschulkindern. Demnach werden die Kinder teils in Schulen unterrichtet, in denen sie rein rechnerisch mehr Quadratmeter zur Verfügung haben als Schüler*innen in anderen Bezirken.
Rechnerisch ergibt sich daraus eine Überkapazität. Das bedeutet: Nach den allgemeinen Vorgaben könnten mehr Kinder in den bestehenden Schulen unterrichtet werden. Neukölln ist aber ein „abgebender Bezirk“. Das bedeutet, dass relativ viele Kinder auf Wunsch ihrer Eltern Schulen in anderen Bezirken besuchen – und vergleichsweise wenige in anderen Bezirken gemeldete Kinder nach Neukölln wechseln. Auf dem Papier sieht es also so aus, als ob Räume ungenutzt bleiben. Der Senat habe den Bezirk bereits mehrfach aufgefordert zu handeln, berichtet Stadträtin Korte. Daher hätten sie nun alle Schulen einzeln begangen – und beschlossen, die Gebäude teilweise anders zu nutzen.
Berlinweit fehlen Schulplätze
Das ein Bezirk Schulen verkleinern und Schulplätze abgeben will, verwundert angesichts des berlinweiten Mangels an Schulplätzen. Philipp Dehne, bildungspolitischer Sprecher der Linken-Fraktion in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung (BVV), kritisiert die Pläne des Bezirks daher scharf. „Das beruht auf einer reinen Betrachtung von Räumen und Quadratmeterzahlen“, sagt er. „Stattdessen müsste doch von den pädagogischen Konzepten der Schulgemeinschaft aus geschaut werden.“
Bei neu gebauten Schulgebäuden legt der Senat andere Maßstäbe zugrunde. Dieses Musterraumkonzept sollte auch für Schulen im Bestand gelten, fordert Dehne. „Nach diesem Konzept fehlen der Eduard-Mörike Grundschule laut deren Schulleitung sogar 500 Quadratmeter“, sagt er. „Das ist wirklich absurd.“
Bildungspolitiker Dehne kritisiert zudem, dass der Bezirk über die Flächen die Kosten senken will. Stattdessen könnte man sich auch anschauen, warum die Nebenkosten so hoch sind. „Das wäre auch eine Stellschraube.“ Auch die Schulplatzprognosen des Bezirks zweifelt Dehne an. So würden die Kinder der rund 60 Willkommensklassen gar nicht mitgezählt.
Räume für Pädagogik
Auch die Grünen kritisieren die Situation als „katastrophal“. „Es gibt den Druck, Schulen effizienter zu nutzen“, sagt Susann Worschech, bildungspolitische Sprecherin der Grünen in Neuköllns BVV. Die Bildungsverwaltung schaue pauschal auf die reinen Raumzahlen, ohne zu fragen, was wirklich gebraucht werde.
„Wir haben heterogene Klassen, und für Inklusion oder binnendifferenzierten Unterricht braucht es mehr als einen Raum für 26 Kinder, vor allem im Ganztag“, sagt sie. Kinder müssten auch mal den Raum wechseln, um in kleinen Gruppen zu arbeiten, sich zu erholen, zu toben oder sich anderweitig zu beschäftigen. „Laut Senat soll sich die Pädagogik nach den Räumen richten“, kritisiert sie. Dabei müsste es andersrum sein.
Tatsächlich besteht eine Diskrepanz zwischen dem, was der Senat als Ziele vor sich herträgt, und dem Druck, den er auf Neukölln ausübt. Regelmäßig verkündet die Bildungsverwaltung stolz die Eröffnung neuer, räumlich großzügig geplanter „Compartment-Schulen“. Dort sind die Räume auf moderne pädagogische Konzepte zugeschnitten. Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) betont bei fast jedem Termin, wie wichtig es ihr sei, allen Kindern gute Chancen auf eine gute Bildung zu ermöglichen. Bei den Gipfeln gegen Jugendgewalt betonte der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) immer wieder, wie wichtig Prävention ist und dass kein Kind zurückgelassen werden sollte. Doch beim Spardruck des Senats ist davon in Neukölln keine Rede mehr.
Meridian bestimmt Globalsummen
Dass überhaupt so gerechnet wird, liegt daran, dass die Bezirke sogenannte „Globalsummen“ erhalten. Dafür legt die Verwaltung den Meridian zugrunde. Konkret bedeutet das: Aus allen Schulkosten wird der Mittelwert errechnet, und daraus ergibt sich, was die Bezirken pro Platz ausgeben dürfen.
Am Montagabend im Hauptausschuss meldete sich dazu Martin Hikel, Neuköllns Bezirksbürgermeister und seit kurzem auch Vorsitzender der Berliner SPD zu Wort. „Für manche Dienstleistungen ist diese Systematik vielleicht nicht berechtigt“, sagte er. Das sei auch Thema im Rat der Bürgermeister*innen. „Bei der Modernisierung der Verwaltung wird das auch ein Thema sein“, versprach er.
Die Eltern und Lehrer*innen, die Montag in den Ausschuss gekommen sind, kann das nicht beruhigen. „Wir waren jetzt schon in mehreren Ausschüssen. Immer heißt es, ‚wir wurden aufgefordert‘ oder ‚wir müssen abgeben‘. Wo muss ich hingehen, um unsere Fragen und Forderungen an die wirklich Verantwortlichen heranzutragen?“, fragt ein Elternvertreter.
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