Bilanz der Krawallnacht in Hamburg: Gezielt geplündert
Im Hamburger Schanzenviertel wurden gezielt einzelne Läden geplündert, teils angezündet. Anwohner sind fassungslos.
Das Kopfsteinplaster auf der Straße Schulterblatt ist schwarz von Asche. Die Stadtreinigung ist mit Kehrmaschinen und einem Bagger im Einsatz, um die Reste der Barriakaden zur Seite zu schieben. An einer Stelle sind auf rund 20 Quadratmetern die Platten aus dem Bürgersteig gerissen.
Es ist der Morgen nach einer Nacht mit schwersten Krawallen im Schanzenviertel. Stundenlang hatten Autonome die Kontrolle über den Kiez rund um das besetzte Kulturzentrum Rote Flora übernommen. Laut Polizei hatte „eine größere Zahl von Angreifern die Einsatzkräfte mit Steinen, Flaschen und Zwillen angegriffen. „Eine unbekannte Anzahl von Personen“, sei auf die Dächer einiger Häuser des Schulterblatts geflüchtet. Sie „waren mit Molotowcocktails und Eisenstangen bewaffnet.“ Andere Belege für Brandsätze gibt es derzeit noch nicht.
Allein bei der Erstürmung eines Hauses dort seien 13 Menschen festgenommen worden. Im Laufe der Nacht sind 63 weitere in Gewahrsam genommen worden, hieß es. Nach Angaben der Hamburger Polizei sind bis zum Morgen 213 verletzte Beamte registriert. Zur Zahl der verletzten Demonstranten konnten weder Polizei noch Feuerwehr Angaben machen.
Eskalation am Abend
Die Proteste waren am späten Freitagabend eskaliert. Zunächst konnten Randalierer mehrere Stunden lang in der Straße Schulterblatt frei gewähren. Erst gegen Mitternacht rückte die Polizei mit einem massiven Aufgebot und Spezialkräften in das linksalternative Viertel vor. Gepanzerte Fahrzeuge schoben brennende Barrikaden aus dem Weg. Wasserwerfer waren im Einsatz.
„So etwas habe ich hier noch nicht gesehen“, sagt eine ältere Frau, die kopfschüttelnd durch den Kiez spaziert. Seit 1967 wohne sie hier in dem Viertel, immerwieder habe es Ausschreitungen am 1. Mai gegeben. „Aber so wie gestern … „, beginnt sie und stockt. Die Straße sei voller Menschen in schwarz gewesen. Die hätten ein Straßenschild rausgerissen. „Ich hatte Angst, dass die jetzt losziehen und alle Fenster einschmeißen. Polizei war nicht da.“
Die Krawalltruppe hat offenbar sehr gezielt Läden geplündert. Die meisten Cafés, Kneipen und kleinen Läden an der Straße blieben verschont, auch wenn sie ihre Fenster nicht verbarrikadiert hatten. Einzelne kleine Läden haben am Samstagmorgen schon wieder geöffnet und versorgen die Schaulustigen mit Getränken.
Geplündert und angezündet
Vor dem Rewe-Markt, in dem sich sonst die Szene gern bis spät in die Nacht versorgt, steht der stellvertretende Filialleiter vor dem halb hochschobenen Gitter. „Das haben die einfach hochgeschoben“, sagt er. Drinnen sind die Regale komplett leergeräumt und zum Teil zerstört. Im Lager, oben im ersten Stock, sei Feuer gelegt worden. Darüber seien Wohnungen. „Das hätte schlimmer ausgehen können“, sagt der Mann.
Der Schaden ist immens. Ob die Versicherung das zahlt, könne er noch nicht sagen. „Aber wir bauen das wieder auf“, sagt der stellvertretende Filialleiter mit einem Lächeln. „Das wird ein paar Monate dauern. Aber wir bauen das wieder auf“, wiederholt er noch einmal. „Schwarzer Block, verpiss dich aus unserem Kiez“, ruft ein Passant. „Recht hat er ja“, sagt ein anderer.
Laut Polizei ist es auch an weiteren Stellen in der Nähe zu Plünderungen gekommen. So hätten in der Altonaer Straße etwa 500 Täter einen Supermarkt geplündert und diesen im Anschluss angezündet. An vielen Stellen auch im nördlichen St. Pauli wurden Mülleimer angezündet und Barrikaden aus Baumaterialien, Fahrrädern und Verkehrsschildern errichtet.
Am südlichen Ende des Schulterblattes, am Pferdemarkt, hatte am Abend stundenlang eine Barrikade gebrannt. Die Polizei hatte dort in Spuckweite drei Wasserwerfer postiert, das Feuer aber brennen lassen. Weitere Wasserwerfer sprühten derweil in die Menge der im kleinen Park am Grünen Jäger stehenden Schaulustigen, um diese zu vertreiben. Über alle knatterten zwei Hubschrauber, die die Szenerie von oben ausleuchteten.
Relaxte Alternative
Während im Schanzenviertel die heftigsten Krawalle tobten, herrschte im Kiez auf der Reeperbahn ausgelassene Stimmung. Dort tanzten Hunderte zu den wummernden Bässen eines Soundsystems unmittelbar vor der Davidwache im blinkenden Blaulicht zweier Wasserwerfer. Zudem radelte die Fahrraddemo „Colorfull Mass“ stundenlang friedlich kreuz und quer durch die Stadt, teils in Sichtweite der Ausschreitungen.
Am Samstag werden die Demonstrationen rund um den G20-Gipfel weitergehen. Die Initiative „Hamburg zeigt Haltung“, die auch vom Hamburger Senat unterstützt wird, erwartet bis zu 30.000 Menschen, die ab 12 Uhr am Hafenrand entlang bis zum Fischmarkt ziehen sollen.
Schon um 11 Uhr beginnt die Demonstration „Grenzenlose Solidarität statt G20“, die sich vor allem gegen Armut, Krieg und die Ursachen von Flucht richtet. Zu dieser Veranstaltung, die am späteren Nachmittag am Millerntorplatz enden soll, werden bis zu 100.000 Teilnehmer erwartet. Sie wird vor allem von linken Gruppen und Friedensinitiativen unterstützt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau