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Betroffener über Gewalt im Jugendheim„Man schuldet uns etwas“

Psychische Gewalt und Fixierungen: Ehemalige Haasenburg-Insassen erzählen in Hamburg ihre Geschichte und stellen Forderungen.

Nicht aufgearbeitet: Gewalt in Heimen der Haasenburg Foto: Patrick Pleul/dpa

taz: Herr Martinez, die Interessengemeinschaft ehemaliger Haasenburgkinder ist Gast bei einer Tagung in Hamburg? Was ist Ihr Anliegen?

Renzo Martinez: Wir sind ein Zusammenschluss aus Kindern, die die Haasenburg überlebt haben. Wir sind erwachsen und stellen politische Forderungen. Denn es gibt bis heute keine Entschädigung für das Leiden, das wir erfuhren.

Was haben Sie erlebt?

Wir waren in diesen Heimen systematischem Reizentzug ausgesetzt. Dass hieß lange Isolierung in unseren Zimmern, ohne Kontakt zu anderen Jugendlichen oder zu unseren Eltern. Es gab dort massive Übergriffe durch Betreuer, teils tagelange Fixierungen. Und es gab extreme psychische Gewalt. Etwa, dass Widerspruch nicht erlaubt war.

Sie meinen Willenbrechen?

Genau. Da wurde der Akt des Widerspruchs schon zur Aggression erklärt, die es niederzuringen galt.

Wie viele sind Sie und was wissen Sie voneinander?

Wir haben uns im Oktober gegründet als Reaktion auf den Suizid von Jonas, der auch in der Haasenburg war. Ich habe seither mit etwa 70 Ehemaligen gesprochen. Viele berichten von Symptomen, die auf eine posttraumatische Belastungsstörung schließen lassen. Sie wachen morgens auf, schweißgebadet, und denken immer noch, sie wären in der Haasenburg. Obwohl sie zehn Jahre nicht mehr drin sind. So eine Störung lässt sich behandeln. Aber leider ist es vielen von uns unmöglich, eine Therapie wahrzunehmen. Denn die Haasenburg hat perfiderweise das Vertrauen in Therapeuten zerstört. Viele sind zudem arbeitsunfähig und verarmt.

Im Interview: Renzo Rafael Martinez

33 Jahre alt, war von 2003 bis 2006 in der Haasenburg untergebracht. Er ist Gründer der Betrof­fe­nen­gemein­schaft der ehemaligen Haasenburg-Kinder.

Gibt es auch welche, die die Haasenburg gut fanden?

Ich habe mir eine Liste gemacht. Nur einer, den ich sprach, fand die Haasenburg für sich okay. Die große Mehrheit fand die Zustände dort untragbar. In der Haasenburg müssen mehrere Hundert gewesen sein. Es gibt auch Betroffene, die nicht reden, weil sie heute selber Eltern sind und Angst haben, dass ihnen das Jugendamt das Kind wegnimmt als Repressalie. Generell haben viele Angst vor Behörden.

Was passiert auf der Tagung?

Wir werden als Interessengemeinschaft unsere Geschichte erzählen, dann werden wir eine Deklaration abgeben, und zwar gemeinsam mit der Linkspartei. Wir stehen ja als Extrembeispiel für die geschlossenen Heime, die es immer noch gibt. Die lehnen wir insgesamt ab. Denn geschlossene Systeme sind immer anfällig für Machtmissbrauch.

Die Tagung

Fachtagung „Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim“: 4. März, 9–19 Uhr, Anna-Siemsen-Hörsaal, Uni Hamburg, Von-Melle-Park 8

Was fordern Sie für sich?

Entschädigung. Denn die Haasenburg wurde 2013 geschlossen, nachdem eine Kommission Missstände bestätigte. Mal ehrlich: Das, was wir in der Haasenburg erlebten, hat der Staat finanziert. Er steckt mehrere Hundert Kinder in ein Heim. Das wird geschlossen aufgrund gravierender Mängel. Die zuständige Ministerin entschuldigt sich bei den Betroffenen. Aber die versprochene Aufarbeitung und Hilfe bleibt aus. Diese Kinder sind heute Erwachsene, die nicht arbeitsfähig sind. Sie haben also kein Einkommen. Der Rechtsstaat muss einen Weg finden, mit uns Opfern umzugehen. Das ist er uns schuldig.

Was schlagen Sie vor?

Es ist schwierig für uns als ehemalige Heimkinder, jeweils einzeln Ansprüche nach ­dem Opfer­entschädigungs­gesetz durch­zusetzen. Deshalb fordern wir, das Gesetz zu ändern. Es muss Menschen helfen, die Opfer eines Heimsystems wurden. Derzeit kennt das Gesetz uns als Opfertypus nicht.

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3 Kommentare

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  • Diese Heime waren eine krasse Fehlentwicklung und geprägt durch eine rechtsfreie Arbeitsweise der Betreiber und Betreuer. Wenn man sich §34 SGB VIII durchliest, fällt einem sofort auf, dass diese Heime auf eine dauerhafte Unterbringung ausgerichtet waren. Das ist ja sonst höchstens bei alleinreisenden Ausländern unter 18 so, hier war das Standard und dann kam noch die Definition hinzu, was da als Bedarf betrachtet wurde. Ein guter Sozialpädagoge bricht doch nicht den Willen von Kindern und Jugendlichen oder Jungerwachsenen - das ist schon mal illegal und zweifelhaft, das dies unter den Augen von Eltern und Jugendämtern so gemacht wurde.



    Ob sich ein Gesetz ändern lässt, um zu entschädigen, da bin ich mir unsicher. Das könnte dazu führen, dass zig Menschen, die in Wohngruppen / Heimen waren, sich dahin durchklagen. Normalerweise müsste der Betreiber entschädigen, ich weiß nicht, ob das durchsetzbar ist. Oder ob sich die zuweisenden Jugendämter verklagen lassen. Die werden dann einfach ihre Akten auf den Tisch legen und Hilfeverläufe vorlegen, sich damit rausreden.

    Ich finde es ingesamt bitter, dass wenig über Heimerziehung geredet, diskutiert oder nach gedacht wird. Es ist nicht mal Thema in der Uni.

    • @Andreas_2020:

      Ich melde mich einfach mal selbst zu Wort.



      Ja, das ist schon richtig. Richtig ist aber auch, dass das Landesjugendamt seiner Fürsorgepflicht nicht ausreichend nachgekommen ist und dieses Klima erst durch systematisches Versagen der Behörden ermöglicht wurde. Angefangen mit den jeweiligen Jugendämtern, den jeweiligen Heimen bishin zu den Landesjugendämtern.

      Und faktisch lassen sich weitere Opfer nur so langfristig aufhalten. Es müssen möglichst viele Opfer einen vereinfachten Zugang zum OEG haben, damit die Politik endlich handlungsbedarf sieht sich von diesen menschenverachtenden Konzeptionen zu trennen.



      Dabei ist Entschädigung nur der erste Teil. Viel wichtiger ist es uns dafür zu sorgen, dass weitere Opfer möglichst unterbunden werden. Sicher ist diese Vorstellung utopisch - aber man sollte sich zumindest von den offensichtlichen Problematiken lösen, die ein Biotop schwarzer Pädagogik fördern denn Missbrauch geschieht besonders häufig da, wo ein Machtgefälle auf besonders schutzbedürftige Menschen trifft. Egal ob es sich dabei um Senioren, Kinder und Jugendliche oder Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen handelt.



      Man sollte zumindest den Staat nicht aus der Gleichung nehmen, denn er hat das systematische Zerstören von Kinderleben ermöglicht durch krasses Versagen aller Kontrollinstanzen.



      Ich halte das für keinen Zufall.

  • Wann gelten systematische Verbrechen gegen Kinder eigentlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ?

    Ist "weiße Folter" an Kindern tolerierbar ?

    Gibt es in den Verwaltungen der Heime und Gemeinden Unantastbare die sich alles erlauben können ?

    Gibt es in diesem Zusammenhang eine "Omerta" ?

    Wir werden es wohl nie erfahren ...