piwik no script img

Betreuer über Ekel in der PflegeSchleim, Haftcreme, Magensonde

„Ich könnte das nicht“ ist der Satz, den Pflegende wieder und wieder hören. In der Praxis muss jeder mit seinem ganz persönlichen Ekel umgehen.

Ohne die Hilfe von Pflegern oder Pflegerinnen geht fast nichts Illustration: Katja Gendikova

Kalle hat Nasenbluten. Er saß auf dem Klo, als es anfing. Es hat ihn nicht sonderlich interessiert, dass er Nasenbluten hat, er war anderweitig beschäftigt. Er muss sich wohl immer wieder ins Gesicht gefasst haben, dahin, wo es warm heraustropfte; er hat sich sein gesamtes Gesicht eingeschmiert, die Brille, die Haare, die Kleidung, bis in die Sandalen hinein ist das Blut gelaufen. Natürlich ist auch das Bad vollständig eingekleistert, überall Handabdrücke aus Blut, einzelne Tropfen, auf dem Boden ganze Lachen. Er muss sich mit dem Duschvorhang abgeputzt haben, die Schlieren haben ein zartes Muster auf dem weißen Plastik hinterlassen.

„Ich könnte das nicht.“ Diesen Satz hören Pfleger oft. „Das“, das ist das Ekelhafte, die Körperflüssigkeiten, Schleim und Rotz und Blut und Kot. „Das“, das ist Pflege, die Nähe zu kranken, kaputten, hilfebedürftigen Körpern, das Waschen, das Arsch­abwischen. Das ist, so sagen es die Hygieneforscher, evolutio­när vernünftig, denn so vermied die Menschheit den Kontakt mit Krankheitserregern und Parasiten. Ohne Ekel, heißt es, wäre die Menschheit längst ausgestorben.

Ich habe in der Pflege zwei Arten Ekel kennengelernt. Der hygienische Ekel, diese spontane Reaktion des Körpers auf unangenehme Gerüche, ist das eine. Als ich 17 wahr, arbeitete ich die Sommerferien über in einem Altenheim. An meinem ersten Tag, nach einer kurzen Einführung, wurde ich zusammen mit einer erfahreneren Kollegin in ein Schlafzimmer geschickt, dessen Bewohnerin die Nacht über Durchfall hatte. Ich erspare hier allen die Details, es war ein Schlachtfest, wie es sich selbst nicht zu denken getraut hätte. Ich habe viermal in den Mülleimer gekotzt, bis wir nach einer Stunde das Zimmer sauber hatten.

Diese Form des Ekels lässt sich abtrainieren. Ich finde Exkremente und andere Körperflüssigkeiten immer noch unappetitlich, und bisweilen würgt es mich auch noch, aber es ist inzwischen vor allem eines: unbequem. Ein eingenässtes Bett macht Arbeit, das ist nicht schön, aber auch nicht dramatisch.

Interessanterweise ­bleiben bei den ­meisten Kollegen ­einzelne ­Unappetitlichkeiten tabu. Als ich auf der Gruppe begann, sagte mir ein Kollege, der seit 25 Jahren in dem Bereich arbeitete, es gäbe zwei Dinge, an die er sich nie habe gewöhnen können: epileptische Anfälle und der Geruch von Scheiße.

Die andere Sorte Ekel

Nach und nach stellte sich heraus, dass jeder der Kollegen mit einer anderen Idiosynkrasie zu kämpfen hatte: Die eine konnte kein Blut sehen, der andere fand die Haftcreme für Zahnprothesen abstoßend, die Dritte hatte Schwierigkeiten mit dem Säubern der Magensonde. Ich persönlich komme sehr schlecht mit Schleim zurecht.

Es gibt noch eine andere Sorte Ekel, den existenzialistischen, den Überdruss. Dass Kalle das komplette Bad vollgeblutet hatte, nun ja. Nicht schön, anstrengend, das alles sauber zu machen, aber keine Tragödie.

Frédéric Valin

geboren 1982 in Wangen im Allgäu, arbeitet als Autor und Behindertenpfleger in Berlin. Seine Kurzgeschichtenbände „Randgruppenmitglied“ und „In kleinen Städten“ sind im Verbrecher Verlag erschienen.

Das Problem ist: Kalle ist Bluter. Er hat einen Faktor-Mangel, der verhindert, dass sich seine Wunden von selbst schließen. Früher wäre eine solche Blutung potenziell lebensbedrohlich gewesen, aber Kalle ist inzwischen medikamentös gut eingestellt; kleinere Verletzungen sind in der Regel gut mit Verband und Notfallmedikation zu behandeln.

„Iiiihhhh! Iiiiihhhh!“

In der Regel. Ich gebe ihm also seine Notfallmedikation und drehe ihm aus Mull ein Tampon für die Nase. Dann begebe ich mich zum Bad, um alles großflächig zu säubern und zu desinfizieren. Ich bin keine fünf Minuten weg, da schreit eine Mitbewohnerin: „Iiiihhhh! Iiiiihhhh!“

Auf dem Sofa sitzt Kalle, den Pfropfen in der Hand, den Finger der anderen Hand im blutigen Nasenloch, und schaut ungerührt einen Bud-Spencer-Film. Das Blut läuft ihm über den Finger auf den Pullover.

Ich brülle. Das sollte ich nicht. Das ist falsch, aber ich kann schlechterdings nicht an mich halten. Karl sieht mich erschrocken an. Er hat diese unend­liche Leere im Blick, hinter seinen Augen kann ich einzelne Gedanken wie in ein Glas fallen sehen: pling. Dann lange nichts. Noch mal pling. Dann wieder nichts. Das Blut läuft auf sein T-Shirt, unablässig und in großen Tropfen, es stört ihn nicht. Dafür bin ja ich da, damit das jemanden stört.

Souverän und distanziert

Man sollte als Pfleger ruhig bleiben, souverän und distanziert. Das ist meine Professionalität, das ist, was Arbeit- und Gesetzgeber, mithin die Gesellschaft, von mir erwarten; Geduld ist, denke ich, die zentrale Eigenschaft in der Arbeit mit Menschen (Humor hilft). Ich bin Mittel zum Zweck, ich soll den Bewohnern ermöglichen, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu verwirklichen und Gefahren von ihnen abhalten; dass ich mich um ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden ­derart sorge, als hätte ich selbst im Job ­keines.

Das ist deswegen schwierig, weil sich die Bewohner den Pflegern natürlich sehr nah fühlen – es vergeht kein Dienst, in dem mich Kalle nicht mindestens dreimal fragt, ob ich ihn liebhabe, und Ähnliches gilt auch für die anderen Bewohner. Und es lässt die wenigsten unbeeindruckt; die Zuneigung und Sympathie, die man entgegengebracht bekommt, spiegelt. Ich finde alle meine Bewohner toll.

Zumindest meistens. Und eine Zeit lang. Es ist freilich so, dass sich geistig Behinderte langsamer entwickeln als andere Menschen; das ist, was man mit „geringerer Intelligenz“ medizinisch zu umschreiben sucht. Entsprechend entwickelt sich auch jede Form der Beziehung langsamer. Keiner meiner Bewohner hat einen Begriff davon, wer ich bin, als Individuum; ich bin eine Funktion, ich stelle sicher, dass das Essen da ist und jeder seiner Medikamente bekommt.

Wenn ich gehe, haben sie mich bald vergessen, und das ist auch ganz gut so; es wäre für die Bewohner schwer auszuhalten, wenn ihnen jedes Mal das Herz blutete, sobald einer der Betreuer geht. Wir sind ein Team von sieben Leuten, in fünf Jahren habe ich sieben Leute kündigen sehen. Inzwischen bin ich einer der Dienstälteren. Obwohl man als Pfleger mit seiner ganzen Persönlichkeit einsteht, muss man ersetzbar bleiben.

Das Blut tropft und tropft

Auch jetzt fragt Kalle mich wieder, ob ich ihn lieb habe; er ist verunsichert. Er weiß nicht, was er falsch gemacht hat; er weiß nicht, warum ich gebrüllt habe. Er versteht nicht, was genau jetzt passiert ist. Ich zeige auf sein T-Shirt, mir fehlen die Worte, ich gestikuliere im Leerlauf. „Ach so“, sagt Kalle, dann kuckt er wieder in den Fernseher. Das Blut tropft weiter, blub, blub, blub.

Das sind Situationen, die mich sehr müde machen. Es sind Momente des tiefen Ekels. Es ist nicht das Blut. Das Blut ist mehr unbequem als widerlich, es macht eben Mühe, das wieder in Ordnung zu bringen. Es ist viel schlimmer: Es ist Kalle selbst, der mich müde macht.

Der Punkt kommt unweigerlich, früher oder später: dass man seiner Bewohner überdrüssig ist. Ihre schiere Existenz, ihr Sosein, das einen in der täglichen Arbeit behindert, das macht, dass nichts klappt, wie es soll, obwohl man es doch so oft . . . Himmelherrgott, warum kann das nicht einfach . . .

Die Existenzialisten hatten schon recht, die schiere Existenz des anderen ist bisweilen eine kaum aushaltbare Zumutung. Nirgends spürt man das deutlicher als in der Pflege.

Meistens verfliegt der Ärger wieder. Man kompensiert. Ein gutes Team hilft, mit dem man zusammen schimpfen und lachen kann; Zumutungen nicht persönlich nehmen (so sind sie ja auch nur selten gemeint).

Es gibt Kollegen, die schaffen das ein Leben lang mit den gleichen Personen, ich habe da großen Respekt vor. Andere gehen schneller, und es ist wichtig, dass man rechtzeitig merkt, wann es Zeit wird. Wann der Überdruss zu stark wird.

Kalles Nase hat dann aufgehört zu bluten. Das nächste Mal schneide ich ihm einfach den Zeigefinger ab, denke ich, während Kalle mir erzählt, wem Bud Spencer alles eine reingehauen hat. Dann zögert er kurz und fragt: „Ist das schlimm? Mit dem Blut?“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • "Sowas könnte ich nicht" - Ich denke, man sollte sich über solche Floskeln nicht allzusehr ereifern. Bei dem Einen mag das zwar nur eine Ausrede sein um sich aus sozialer Verantwortung zu drücken, bei Anderen wiederum ist es einfach nur die Wahrheit.

    Und Beide bringen wohl nur zum Ausdruck dass sie sich mit eher normalen psychischen Hemmschwellen konfrontiert sehen, die allerdings auch die meisten Neulinge in diesen Berufen haben: Angst vor den 'Unberechenbaren', Angst vor zuviel Nähe mit menschlichem Elend, Angst Fehler zu machen - aber auch Ekel. Das ändert sich mit zunehmenden Wissen über die Materie und wachsender Professionalität.

    Was sich aber überhaupt nicht zu ändern scheint, ist die Geringschätzung die unsere Gesellschaft diesen Berufsgruppen beimißt. Und dies drückt sich aus in vergleichsweise schlechter Bezahlung, schlechten Arbeitsbedingungen mittels permanenten und beabsichtigten (weil geplanten) Personalmangel, geringem sozialen Status und fast nicht vorhandenen Aufstiegschancen.

    Nirgendwo erfährt man deutlicher wo der Hammer hängt, in unserer Gesellschaft: Nicht der Mensch und seine Bedürfnisse stehen im Mittelpunkt des Interesses, sondern der Geldsack.

  • Diesen Text kann ich vollinhaltlich unterschreiben.

     

    Ich habe während meines Zivildiensts Mitte der 80er eine ganz ähnliche Stelle gehabt (und habe anschließend noch mehrmals in den Semesterferien dort ausgeholfen).

     

    Den Ekel kann man sich wirklich schnell abtrainieren. Etwas länger hat es gedauert, die nötige Ruhe und Gelassenheit in Situationen wie der hier geschilderten zu bewahren. Und auch an die schwarze Verzweiflung, die einen manchmal packen kann, kann ich mich gut erinnern.

     

    Aber unterm Strich habe ich von meinen Schutzbefohlenen viel mehr zurückbekommen, als ich ihnen gegeben habe. Ich möchte diese Zeit nicht missen.

  • 6G
    61321 (Profil gelöscht)

    Danke für Ihre Reflektion. Da ist so manche tiefere Einsicht darin. Ich wünsche mir etwas mehr Anerkennung für Ihren Job, auch materiell natürlich.

  • Klingt scheiße. Da kann man nur hoffen, dass Behinderungen durch moderne Präventionsmethoden in Zukunft immer seltener werden.

     

    Aber für manche ist ja schon die Meinung, dass ein Leben ohne Behinderung erstrebenswerter ist, Ausdruck von Faschismus.

    • @Thomas Friedrich:

      Nun ja, Leben ohne Behinderung und Leben ohne Behinderte sind schon zwei paar Schuhe.

      • @winter:

        Wo ist der Unterscheid? Die Vermeidung von Behinderungen resultiert logischerweise in einer verminderten Zahl behinderter Menschen. Seit es Impfungen gegen Kinderlähmung gibt, gibt es zum Beispiel weniger Menschen mit Kinderlähmung. Seit Contergan nicht mehr verschrieben wird, werden keine neuen Contergangeschädigten geboren.