Besuch bei Cornelia Funke in der Toskana: Eine perfekte Erzählung
Cornelia Funke hat mit ihren Jugendromanen eine ganze Generation geprägt. Nun widmet sie sich dem Klimaschutz. Woher dieser Sinneswandel?
A ls wir uns das erste Mal begegnen, nimmt Cornelia Funke mich in den Arm, als seien wir gute Freundinnen. Ich stehe vor dem Tor ihres Hofes in der Toskana, wo sie mit ihrem E-Auto vorfährt und nur für die Begrüßung aussteigt. Sie entschuldigt sich, dass sie gleich wieder losmüsse, um zwei Stipendiat_innen abzuholen. Ein Bahnstreik habe alles durcheinander gebracht, ich solle mich einfach in ihrem Zuhause umschauen und es mir gemütlich machen.
Auf dem Hof brummt und summt es aus allen Richtungen. Ich habe das Gefühl, eine Welt aus ihren Büchern zu betreten. Der Garten, der zwei alte Steinhäuser umgibt, sieht wild, fast schon verwunschen aus. Überall stehen Skulpturen und Figuren herum. Eidechsen laufen durch die hohen Gräser und die Wände der Steinhäuser empor. Eine der vielen Sitzgruppen, die sich über das Gelände verteilen, ist von einem meterlangen Stahlflügel überdacht, der Schatten spendet. Ein Kunstwerk eines Freundes, wie Funke später erzählen wird. Menschen begegnen ich keinen, ich sehe und höre nur die Natur.
Mit den Büchern von Cornelia Funke bin ich aufgewachsen. „Die Wilden Hühner“ klaute ich meiner großen Schwester aus dem Regal und wünschte mir, selbst ein Teil dieser Mädchenbande zu sein, die mit Streichen die Jungs ärgerten. Die „Tintenwelt“-Reihe las ich nachts mit der Taschenlampe unter meiner Bettdecke, als ich längst schlafen sollte. Klingt kitschig, war aber so. Mich faszinierte damals gar nicht unbedingt die fantastische Welt, sondern wie schön gruselig die Geschichte um Meggie und ihren Vater Mortimer war, der die Zauberkraft besitzt, Wesen in Bücher hinein- und in die reale Welt hinauszulesen. Mich faszinierte, dass die Figuren fast immer für die gute Sache, für Gerechtigkeit gekämpft haben.
Weltweit hat Cornelia Funke über 31 Millionen Bücher verkauft. Vergangenes Jahr veröffentlichte Funke mit „Die Farbe der Rache“, nach 16 Jahren Pause, den vierten Teil ihrer „Tintenwelt“. Wieder ein Bestseller. Funke war wochenlang medial präsent, gab Interviews und lud Journalist_innen auf ihren Hof ein. Im Gespräch mit dem Spiegel sagte sie, sie wolle eine Schreibpause einlegen und sich stattdessen ein Jahr lang dem Klimaschutz zuwenden.
Weil ich wissen möchte, was sich hinter diesem „grünen Jahr“ verbirgt, verabrede ich mich im Winter mit ihr zum Zoom-Call. Von ihrem Schreibzimmer lächelt mich die Mitsechzigerin auf meinem Bildschirm an. Sie erzählt, wie sie vor Jahren in den USA Aktionen von Native Americans, die sich in Wäldern festgekettet hatten, mit Proviant versorgte, aber selbst nie den Mut hatte, sich festzuketten. Doch irgendwas wollte auch sie gegen die Klimakrise tun, dieser Wunsch ist geblieben. Sie sagt: „So Cornelia, jetzt machst du mal ein Jahr Pause, schreibst kein großes Buch, sondern lernst das Alphabet der natürlichen Welt. Zumindest die ersten Buchstaben.“
Auf meine Frage, was das konkret bedeutet, antwortet Funke mit einer Aufzählung: Seit sieben Jahren lese sie nur noch Sachbücher, ist im Dialog mit Klimaschützer_innen und möchte ihren Garten mithilfe von Permakultur umgestalten. Dutzende Schlagworte und Namen fallen in unserem Gespräch. Nach einer Stunde sagt sie, was sie in ihrem Klimajahr genau tue, können sie nicht gut erklären, ich müsse es sehen und erleben. Ich nehme die Einladung an. Aber ich bin auch skeptisch – wie immer, wenn Prominente sich einer „guten Sache“ verschreiben. Steckt hinter dem Projekt letztlich vor allem Promo für die eigene Sache?
Funkes Zuhause liegt in der Toskana, abgeschieden vom Tourist_innengetümmel. Vom Marktplatz der historischen Altstadt Volterra sind es zwar nur gut zwei Kilometer, doch einen Bus gibt es nicht. Wer kein Auto besitzt, muss laufen. Von ihrem Hof aus bietet sich ein Panorama-Ausblick auf die saftig-grünen Hügel und Täler, die Häuser der Nachbar_innen sind nur zu erahnen.
Als Funke später wiederkommt, hat sie zwei junge Gäste aus Deutschland dabei. Sie sind Biologiestudent_innen der UN-Dekade „Biologische Vielfalt“, einem Projekt der Vereinten Nationen, um mehr Aufmerksamkeit für die Klimakrise und die Bedrohung der Vielfalt zu generieren. Funke ist dessen Botschafterin.
Bevor Cornelia Funke die Möglichkeit hat, den beiden ihre Unterkunft zu zeigen, stolpern sie über eine unscheinbare gelbe Blume. Der Student ruft: „Oh, ein Gewöhnlicher Klettenkerbel.“ Daraufhin entspinnt sich ein Gespräch, das von Wildkräutern in Italien über Wölfe und Jäger zu Schlangen im Amazonas springt, mit der körperlich anstrengenden Olivenernte in Italien weitergeht und damit endet, auf welche Art Ameisen Lachgas produzieren können. Jedes Stichwort führt zu einem neuen Thema. Das Gespräch gleicht einem Schlagabtausch unter Natur-Nerds. Bei jeder Information, die die Biolog_innen mit ihr teilen, klatscht Funke in die Hände und ruft: „Wir werden so viel Spaß miteinander haben“.
Während die zwei neuen Gäste sich zur Erkundung des Geländes auf den Weg zu den Olivenbäumen gemacht haben, sitzen Funke und ich mit Kaffee und Keksen an einem großen Holztisch vor ihrem Haus. Woher kommt diese Faszination für die Pflanzen? Funke erzählt, wie sie als Kind Grassuppe gekocht habe. Wie sie unter einem Mandelbaum saß und die Blüten auf sie herunter fielen. Oder wie sie sich im hohen Gras ein Haus getrampelt habe.
Aufgewachsen ist Funke in einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt, später ist sie nach Hamburg gezogen, wo sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern gewohnt hat. „Dort haben wir auch Gemüse angepflanzt und Hühner gehalten. Das mussten wir uns alles erst beibringen, wir hatten gar keine Ahnung“, sagt sie. Doch ihre tiefe Verbundenheit zur Natur sei erst in ihrer Zeit in den USA gekommen. 18 Jahre lang hat sie dort auf einer Avocadofarm mit Blick auf den Pazifik in Kalifornien gelebt.
Die Erzählung der Pflanzenliebhaberin von Kindheitstagen an bis heute klingt perfekt. Man könnte auch sagen: konstruiert. Doch Funke ist Medienprofi, seit Jahrzehnten spricht sie mit der Presse. Und sie weiß, wie man Geschichten erzählt, die haben sie schließlich berühmt gemacht. Doch auch unabhängig davon scheint ihre Liebe für Natur nicht behauptet zu sein. In ihren Bücher wimmelt es nur so von Naturbeschreibungen. Das ist mir als Kind allerdings nie aufgefallen.
Als ich vor ein paar Jahren las, dass Funke nach Italien zieht, war ich nicht überrascht. Hatte sie doch schon früh ihre Geschichten hier angesiedelt. „Der Herr der Diebe“ spielt in Venedig, die „Tintenwelt“ in Ligurien. Als ich sie darauf anspreche, lacht sie. Denn für sie sei das alles andere als klar gewesen. „Ich wollte niemals in der Toskana leben. Ich dachte, die Natur sehe hier zu menschengemacht aus und dass ich überall nur Deutschen begegnen würde“, sagt sie. Doch eine befreundete Schauspielerin riet ihr, die Gegend um Volterra anzuschauen, ihre Assistentin fand einen Hof und so zog sie vor drei Jahren von Malibu hierher.
Wenn sie von Kalifornien redet – sie sagt im breiten US-amerikanischen Akzent „California“ –, spricht Funke wie über einen geliebten Ex-Partner. Sie erzählt vom Blick auf den Pazifischen Ozean mit seinen Walen und Delfinen, den sie von ihrem Zuhause in Malibu auf den Bergen hatte. Während sie spricht, streichelt sie einen ihrer Hunde, einen australischen Schäferhund-Pyrenäen-Mischling, der während des Gesprächs unter dem Tisch liegt und seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt hat. Auf sein Bellen hin antwortet sie: „Yeah, you’re Californian, absolutely.“ Sie habe nicht viel aus den USA mitgenommen, aber die beiden Hunde mussten mit. Und sich selbst habe sie natürlich auch mitgebracht, sagt sie und lacht. In Kalifornien habe sich ihre Art zu Denken verändert. „Das Land hat mich ein bisschen umprogrammiert. Ich habe realisiert, wie sehr ich die Wildnis, aber auch die Menschen brauche. Ein Teil von mir wird immer kalifornisch sein.“ Bis heute werde sie in Volterra „L’Americana“ genannt. Als sie das erzählt, kling sie stolz.
Wenn die Frau aus dem Feuer spricht
Wenn man Funke fragt, wieso sie trotz dieser Liebe die USA verlassen hat, bekommt man zuerst eine politische Antwort. Ihre Avocadofarm sei bei einem Feuer fast zerstört worden und konnte nur dank eines Nachbarn gerettet werden. „Die ganze Natur vor Ort wurde immer trockener, ich hatte das Gefühl, im Schaufenster des Klimawandels zu leben.“ Hinzu kam Trump, der im Denken der Amerikaner viel Schlechtes angerichtet habe.
Als klimabewusste Frau eine Avocadofarm zu betreiben, klingt widersprüchlich. Ebenso, dass sie jetzt auf einem hektargroßen Gelände mit klimatisierten Steinhäusern und Pool lebt. Doch auf jede kritische Nachfrage hat Funke eine Antwort. Die Avocadofarm habe der Nachbar mit seinem Vater vor Jahrzehnten angepflanzt. „Natürlich weiß ich, dass es irrwitzig ist, in so einer trockenen Landschaft Bäume zu bewirtschaften, die so viel Wasser verbrauchen. Doch was hätte ich tun sollen, die ganzen Bäume aus der Erde reißen und sie töten?“ Und die Löwenhitze in der Toskana sei ohne Klimaanlage eben nicht auszuhalten.
Zu den Gründen, warum sie die USA verlassen hat, gibt es noch eine andere Geschichte. Funke erzählt, wie sie bei einer Geburtstagsfeier eines indigenen Freundes saß, im Garten brannte ein Feuer. Und während sie da so saß, sei auf einmal eine Frau in dem Feuer aufgetaucht und habe ihr zu verstehen gegeben, dass sie das Land verlassen müsse. Und da wusste sie, dass es Zeit war zu gehen.
Wenn man Cornelia Funke zuhört, hat man das Gefühl, als würde sie ständig in zwei Welten leben. Denn ihr Bewusstsein für die Klimakrise und die politische Weltlage verbieten es, sie als „weltfremd“ zu bezeichnen. Doch dann sind da diese fantastischen Geschichten, die beim Zuhören nur schwer einzuordnen sind. Sie klingen mehr nach Fiktion als nach Realität. Aber sie erklären vielleicht, wie all diese Welten für ihre Bücher aus ihrem Kopf entspringen können.
Nach Volterra ist Funke allein gekommen. Ihr Mann ist vor knapp zwei Jahrzehnten, nur ein Jahr nach dem sie in den USA angekommen waren, an Krebs gestorben. Ihre Kinder sind erwachsen und nicht mit nach Italien gekommen. „Das erste halbe Jahr war ganz, ganz schwer. Man bemerkt all die Sachen, die man nicht sagen kann. Die Kultur ist teilweise sehr fremd“, sagt sie. Doch auch alte Bekannte, die sie hier wieder traf, machen ihr zu schaffen: Der Klimawandel und der Rechtspopulismus.
Kurz nachdem Funke in die Toskana zieht, passieren zwei Dinge: Die Faschistin Giorgia Meloni wird Italiens Ministerpräsidentin. Und gerade einmal sechs Wochen nach ihrem Umzug muss Funke wegen Feuer evakuieren. Schon wieder. Ein Nachbar hatte Benzin auf seine Blätter gegossen und angezündet, wie er es immer im Oktober tue. Doch die Oktober seien mittlerweile eben nicht mehr feucht und kalt, sondern warm und trocken.
Norditalien gilt längst auch als klimatischer Hotspot, die Auswirkungen der Klimakrise sind hier stärker zu spüren als in anderen Orten Europas. „Ich dachte, ich pack das nicht noch einmal. Aber es hat mir noch mal sehr klar gemacht: Auch wenn es hier noch nicht so trocken ist wie in Kalifornien, man kann vor der Klimakrise nicht weglaufen.“
Dass die Klimakrise mittlerweile auf der ganzen Welt zu spüren ist, ist eine Binse. Ebenso, wer dafür verantwortlich ist: Industrieländer, fossile Konzerne und reiche Individuen, die mit ihrem Jetset-Lebensstil auf Kosten vieler anderer leben. Einen Helikopter hat Funke nicht, doch ihr Lebensstil mit großem Anwesen und internationalen Lesereisen ist auch nicht gerade nachhaltig.
Von der anfänglichen Ruhe auf dem Hof ist mittlerweile nicht mehr viel übrig. Zwei Illustrator_innen aus Deutschland und Italien sind von ihrem Ausflug aus der Stadt zurück. Sie waren einkaufen, um am Abend für alle Pizza zu backen. Wenig später kommt eine junge Frau auf den Hof, sie war selbst einmal Stipendiatin bei Funke und ist mittlerweile bei ihr angestellt, um bei der Umgestaltung des Gartens und bei der Betreuung der Gäste zu helfen. Wenn Funke zusammenfassen soll, was diesen Hof ausmacht, zitiert sie den Sänger Bob Dylan: Er soll ein „shelter from the storm“ sein. Ein Ort zum Entkommen, aber einer, wo man den Sturm draußen noch hört. Denn bei all der Liebe zur Kunst dürfe man die Augen vor der Realität nicht verschließen.
Um zu zeigen, was die Stipendiat_innen hier tun, steht Funke auf und verschwindet in der Werkstatt, einem dunklen Raum voller Tische, Mal- und Zeichenutensilien. Sie kommt mit einem großen Buch wieder. Eine Ornithologin hatte ihr online angeboten, die Vögel auf dem Hof zu bestimmen. Funke lud sie ein. Daraus entstanden ist das Vogelbuch. Jede_r, der hier zu Gast ist, ist eingeladen, einen der Vögel zu zeichnen, zu malen oder zu basteln. Sie selbst hat sich auch mit einem roten Star verewigt. Die Wissenschaftler_innen helfen bei der Bestimmung der Tiere und Pflanzen und der Konzeption des Gartens. Die Stipendiat_innen können tun, was sie möchten. „Wenn jemand einfach eine Woche in die Luft gucken möchte und dann mit diesen Eindrücken wieder nach Hause fährt, ist das total in Ordnung“, sagt Funke. „Aber eigentlich passiert das nie.“ Einmal pro Woche nehme sie sich für jede Person eine Stunde Zeit, um zuzuhören und Tipps zu geben.
Während unseres Gesprächs kommen Funke die Tränen, als sie von einer Gruppe junger Mädchen erzählt, auf die sie bei einem Schreibwettbewerb aufmerksam geworden ist. Sie wischt sich die Tränen nicht verstohlen aus den Augen, sondern spricht darüber, was sie rührt. Junge Menschen, die aus einer so krisengebeutelten Zeit kämen, gingen ihr eben nahe.
Geschichten zu erzählen, sei für sie nicht nur ein Abenteuer, sondern auch eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, gerade in dunklen Zeiten. „Ich sage jungen Literaten immer: Ihr werdet Menschen Worte liefern, die keine eigenen haben. Worte, zwischen denen sie Trost finden und zu Hause sind.“
In ihrem Schreibzimmer stapeln sich neben Notizen und Figurenzeichnungen auch Briefe von ihren Leser_innen. Manche schrieben ihr, dass ihre Bücher ihnen durch schwere Krankheiten hindurch oder über Schicksalsschläge hinweg geholfen hätten. Ist es also Nächstenliebe, die sie dazu bringt, ihr Haus für Fremde zu öffnen? Nicht nur. „Zu Beginn hatte mein Projekt absolut auch eigennützige Gründe. Ich wollte einfach Gesellschaft und leben wie in einem Dorf, um gemeinsam herauszufinden, wie wir anders leben können.“
Cornelia Funkes grünes Jahr funktioniert anders, als ich es mir vorgestellt habe. Es scheint mehr um Community als um Aktivismus zu gehen. Die Meldung „Erfolgreiche Kinderbuchautorin klebt sich mit der Letzten Generation auf der Straße fest“ hätte sicherlich für mehr Aufmerksamkeit gesorgt. Doch dieses Bild, wie Funke mit Sekundenkleber an den Händen auf Kreuzungen sitzt, hat nichts mit der Realität zu tun. Es existiert nur in meinem Kopf. Als ich hier bin, verstehe ich, dass es Funke um etwas anderes geht. Sie möchte die Utopien aus ihrer Literatur auch in der Realität schaffen.
Und so fühlt sich der Hof auch wie eine Art Parallelwelt an, die mit ihren vielen Winkeln zum Verstecken einlädt. Ich blicke ein wenig neidisch auf Funke und ihre Gäste, die an einem so idyllischen Ort leben können und sich einfach mit dem beschäftigen, was sie interessiert. Bewerben kann man sich auf ein Stipendium nicht, Funke wählt die Personen aus aller Welt aus. Damit bleibt es ein kleiner Zirkel, der in den Genuss kommt, hier für eine kurze Zeit zu leben.
Aber kann sich aus so einer geschützten Exklusivität überhaupt politische Wirkung entwickeln? Da ist er wieder, der Widerspruch, der in vielen Geschichten vorkommt, die Funke mir an diesem Tag erzählt. Bei der Sache mit der Avocadofarm oder als sie erzählt, dass sie regelmäßig für Lesungen durch Europa fliegt, obwohl sie ansonsten versucht, ihren ökologischen Fußabdruck zu verringern. Während ich versuche, das alles zu begreifen, kommt mir plötzlich in den Sinn, dass Cornelia Funke sich damit gar nicht groß von uns Normalsterblichen unterscheidet. Wir haben alle Lust auf ein gutes Leben und picken uns das Machbare heraus. Funke macht das halt nur im größeren Stil.
Wir sprechen über viele Themen: Angefangen von der etruskischen Stadtmauer in Volterra, die am Mittag teilweise zusammengebrochen ist, über Italiens Regierung bis zu den Kriegen dieser Welt. Funke scheint nicht gerne Smalltalk zu führen, sondern geht lieber direkt in die Diskussion. Immer wieder kommen wir auf die Klimakrise und ihre Folgen zu sprechen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die Angst, dass Kinder nicht mehr unbefangen über eine Wiese rennen können oder dass die Biodiversität verloren geht, ist bei Funke groß. Auch, dass wir nicht nur das Wissen über die Pflanzen verlieren, sondern auch die Pflanzen selbst, und am Ende eine graue Welt übrig bleibt mit Tauben und Ratten, mit Gestrüpp und Disteln, aber ohne Vielfalt, Farbe und Freude. „Ich würde schon sagen, dass es ziemlich finster aussieht für die Welt. Aber wir müssen trotzdem etwas anders machen“, sagt sie. „Wir haben eine Verantwortung, dass künftige Generationen eine lebbare Zukunft haben werden, wenn es diese denn geben wird.“
Es sind Sätze wie diese, die für mich klarmachen: Funke nimmt die Krisen dieser Welt und ihre Verantwortung ernst. Sehr ernst. Mit ihrer amerikanisch-offenen Art möchte man sie schnell als optimistische Person bezeichnen, doch aus dem, worüber sie spricht, lässt sich wenig Hoffnungsvolles ablesen. Es ist, was mich an diesem Tag am meisten überrascht. Bislang hatte ich das Düstere in Funkes Büchern eher als Lust am Gruseln oder an Abenteuern interpretiert. Doch es steckt auch viel Weltschmerz dahinter.
Zur Mittagszeit zieht Funke sich in ihre Wohnung zurück, sie müsse sich ausruhen. Als wir später wieder zusammensitzen, bekomme ich eine Vorstellung davon, wie Ausruhen für diese Frau kurz vor ihrem Rentenalter aussieht. Sie erzählt, sie habe gar nicht geschlafen, sondern kichernd auf der Couch an dem neuen Band ihrer „Gespensterjäger“-Reihe geschrieben. Die auferlegte Schreibpause im Ruhejahr scheint sie also nicht einzuhalten. Im Gegenteil, sie jongliert Dutzende Projekte gleichzeitig. Als ich sie darauf anspreche, entgegnet sie lachend: „If you want to make God laugh, tell her about your plans.“ Sie beginnt mit einer Auflistung, woran sie gerade arbeitet: ein Sachbuch zu Motten, ein Kinderbuch zur Klimakrise, ein Serienkonzept für „Die Wilden Hühner“. Und dann ist da noch eine andere Geschichte. Funke bleibt im Vagen, wenn sie von ihr erzählt, doch ihr Blick sieht aus, als wäre sie frisch verliebt. Sie sagt: „Als ich kürzlich in Venedig war, hat eine große Geschichte mich angesprungen. Das ist so eine, von der man weiß, dass sie mächtig ist. Ich versuche mich immer zu ermahnen: Nein, Cornelia, du machst jetzt doch dein grünes Jahr. Aber die Geschichte hört einfach nicht auf zu flüstern.“ Als wir kurz vor der Veröffentlichung dieses Artikels noch einmal miteinander sprechen, verrät Funke mir, worum es sich bei der geheimnisvollen Geschichte handelt: Sie sitzt an der Fortsetzung der „Herr der Diebe“-Reihe.
Ein Versuch, alles richtig zu machen
Ein Buch zu schreiben, erfordert harte Disziplin. Bei Funke klingt es wie ein Leichtes. „Schreiben ist für mich immer schon Schokolade gewesen. Ich muss mich immer ermahnen: Iss nicht zu viel Schokolade, Cornelia. “
Als sie mich später über das Gelände und durch ihre Wohnung führt, landen wir irgendwann in einem Raum, der vom Boden bis zur Decke mit Büchern gefüllt ist. Es ist ihre Bibliothek mit einem Tonstudio, dass ihr Sohn eingerichtet hat. Gleich am Eingang stehen ihre eigenen Bücher: Von den „Wilden Hühnern“ über „Reckless“ zum aktuellen „Tintenwelt“-Band, in Deutsch, Italienisch, aber auch Russisch und Chinesisch. Geheimniskrämerisch zeigt Cornelia auf die rechte Wand und fragt: „Fällt dir etwas auf?“ Tut es nicht. Beim Nähertreten sehe ich, dass eine Regalwand etwas zurückversetzt ist. Eine geheime Tür. Schiebt man sie vorsichtig zur Seite, legt sich ein versteckter zweiter Raum frei, der ebenfalls von Boden bis zur Decke mit Büchern gefüllt ist. Vor allem mit Fantasy. Ein Paradies für Kinder oder eben für Cornelia Funke.
Wann immer wir an diesem Tag über Fantasy und die Möglichkeit reden, mit diesen Geschichten der Wirklichkeit für einen kurzen Moment zu entfliehen, kommt das Gespräch irgendwann auf Joanne K. Rowling zu sprechen. Gibt es doch auch einige Gemeinsamkeiten zwischen den beiden: Die Liebe für Fantasy, ihre fesselnden Bücher, die Kinder und Jugendliche zum Lesen bringen, das Erschaffen eigener Welten. Und natürlich auch der Erfolg. In Medien wird Funke manchmal als „die deutsche Rowling“ bezeichnet. Viele Menschen in meinem Alter sind mit ihren Büchern aufgewachsen, man nennt uns spaßhaft die „Generation Harry Potter“. Doch nach den wiederholten transfeindlichen Aussagen von Rowling haben immer mehr Leser_innen mit der Autorin gebrochen. Und Rowling ist da kein Einzelfall, in beängstigender Regelmäßigkeit versuchen Held_innen unserer Kindheit mit politisch kontroversen Haltungen Aufmerksamkeit zu generieren.
Im vergangenen Jahr wurde Funke vom Spiegel auf nachträgliche Veränderungen in Kinderliteratur (wie der „Südseekönig“ in Pipi Langstrumpf) angesprochen. Damals war meine Angst groß, wieder von einer Autorin meiner Kindheitstage enttäuscht zu werden. Doch Funke distanziert sich von Rowling. Sie erzählt, dass ihre Bücher vor der Veröffentlichung von Sensitivity Readern gelesen werden, die Hälfte der Anmerkungen setzte sie um. „Ich bin so privilegiert in vielerlei Hinsicht, als weiße deutsche Frau. Als Geschichtenerzählerin muss ich auch durch die Augen anderer auf die Welt sehen. Das schulde ich meinen Lesern.“
Doch so einfach sich das mit der Verantwortung sagt, so schwer ist es manchmal, danach zu leben. Funkes Bücher werden international verlegt – auch in Russland. Das habe auch hier am Hof zu Spannungen geführt, erzählt sie. Eine ukrainische Illustratorin habe sie am ersten Tag ihres Stipendiums angesprochen und gesagt: „Bitte, Cornelia! Du darfst deine Bücher nicht in Russland verlegen. Mit den Steuern, die die Verlage zahlen, werden Kugeln finanziert, die unsere Kinder töten.“ Stundenlang hätten sie sich darüber unterhalten.
Funke verlegt weiter in Russland. Aber sie sagt, nun gingen alle Profite aus den Verkäufen an ukrainische Organisationen. Und die Verlage in der Ukraine können ihre Rechte umsonst bekommen.
Es ist der Versuch, alles richtig zu machen.
Auch auf die Frage, ob ihre Community zu exklusiv sei, hat Funke eine Antwort. Sie habe gerade einen zweiten Hof gekauft, nur 15 Minuten mit dem Auto entfernt in Mulinaccio. Dort können bis zu zehn Gäste gleichzeitig unterkommen. Hier soll es auch ein kleines Restaurant, Veranstaltungen und einen Tag der offenen Tür geben. Im Permakulturgarten sollen alle mitmachen können. Ihre persönliche Aufgabe sieht Funke vor allem in der Finanzierung. „Natürlich wird es auch weiter Reiche geben, die sich in ihren wohltemperierten Türmen verschanzen können. So jemand möchte ich nicht sein“, sagt Funke. Zwar könnten man auch ihre beiden Höfe in der Toskana in die Kategorie „wohltemperierte Türme“ einsortieren. Aber wenigstens möchte Cornelia Funke ihre Türme teilen.
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