Besetzte Hochschule in Budapest: Wache stehen für die Freiheit
Seit das Orbán-Regime die Uni für Theater- und Filmkunst konservativ umgebaut hat, wird sie besetzt. Die StudentInnen fordern mehr Mitbestimmung.
In 30-Minuten-Schichten sind die WächterInnen eingeteilt. Sie stehen stumm in 4 Metern Höhe auf dem Dach über der Straße, und alle tragen Masken. Natürlich dient das Kleidungsstück dem Schutz vor dem Virus, trotzdem schaut es aus, als wären sie vermummt in ihrem Kampf gegen die willkürliche Entmachtung der bisherigen Universitätsleitung.
Es ist schwer vorauszusagen, wie der Streit um die SZFE gelöst werden kann. Die ungarische Regierung hat im Frühjahr den Lockdown genutzt und ohne jegliche Absprache unangekündigt die Umstrukturierung einiger Universitäten auf den Weg gebracht. Der Senat der SZFE hat aus den Medien erfahren, dass auch seine Universität binnen drei Monaten aus der staatlichen Verwaltung in den Besitz einer neu gegründeten Stiftung gelangen soll.
In Zukunft sind dann die DozentInnen keine staatlichen Angestellten mehr, was höhere Gehälter, aber auch eine leichtere Kündigung ermöglicht. Die drei Gebäude der Uni werden zum Stiftungseigentum erklärt, darunter ein innerstädtischer Palast und ein Prachtkino im Herzen von Budapest. Finanziert werden soll die Universität durch einen Langzeitvertrag mit dem Staat.
Sie brauchen die Kräfte für den Kampf
Hinter den WächterInnen ragt das Haus Nummer 2 in der Vas utca empor (wörtlich übersetzt ist es die Eisenstraße). Es ist wie geschaffen für ihren Protest. Es gibt Proberäume, wo die StudentInnen in Gruppen ihre Aktionen erarbeiten und ihre Plakate oder gelbe Masken selbst herstellen können. Es gibt ein Buffet, im Nebenraum lagern sie die Zuwendungen ihrer UnterstützerInnen.
Lebensmittel, Decken, Matratzen und Hygienesachen werden gespendet, sympathisierende Restaurants bringen manchmal warmes Essen gleich für 80 Personen vorbei. Im Wohnheim der Universität können viele schlafen, andere haben ihre Zelte im Flur aufgestellt.
Sie haben sich verständigt aufzupassen, sodass sich alle ausruhen können. Sie brauchen ja ihre Kräfte für einen Kampf, der noch sehr lange dauern kann, erzählt Mihány Csernai, der Vorsitzende der Studentenvereinigung der Universität, in einem Radiointerview. Verliert er seinen Optimismus, so geht er ins Zimmer mit den Sachspenden, um seelisch aufzutanken. Dort fühlt er die breite Unterstützung im Land.
Das heutige Unigebäude wurde während des Zweiten Weltkriegs im faschistischen Ungarn als Zentrale der Christlichen Jugend im nüchternen Stil erbaut, später wurde das sechsstöckige Haus von den KommunistInnen enteignet. Im Zuge der Umbauten wurde die Kirche im Erdgeschoss in ein Theater mit 261 Sitzen verwandelt, wo fortan die Aufführungen der Schauspielhochschule stattfanden. Hier halten die BesetzerInnen ihre Foren ab.
Zweimal am Tag diskutieren sie über ihre Ziele, Forderungen und Aktionen. Nach dem Frühstück wird zuerst beraten, dann abgestimmt. Sie passen auf, dass alle gehört werden, die Foren werden im Netz für die nicht Anwesenden übertragen.
Die SZFE ist eine beschauliche Universität, um die 300 StudentInnen erlernen hier verschiedene kreative Berufe. Etwa zwei Drittel von ihnen nehmen aktiv an den Protesten teil: angehende SchauspielerInnen und RegisseurInnen, TheaterwissenschaftlerInnen und PuppenspielerInnen, DramaturgInnen und FernsehreporterInnen. Sie passen auf, dass jederzeit zumindest 70 von ihnen im besetzten Haus sind. Sie haben sich juristisch für den Fall beraten lassen, dass die Polizei oder die Gesundheitsbehörde – unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung – das Gebäude räumen will.
Vorbereitet für Angriffe von Fußballultras
Sie halten nicht nur auf dem Vordach Wache, auch an anderen wichtigen Stellen wird aufgepasst, dass niemand reinkommt, der nicht an der 155 Jahre alten Uni studiert oder lehrt. Sie haben auch ein Warnsystem erarbeitet: Sollte ein Angriff von Fußballultras kommen, dann eilen UnterstützerInnen für eine Menschenkette her. Dass sie mal gebraucht werden, ist nicht ganz auszuschließen. Die Partei Fidesz hat die größeren Sportklubs fest in der Hand, und die Ungarn erinnern sich gut daran, als Hooligans im Jahr 2016 mit Androhung von Gewalt eine Volksbefragung vor der Wahlkommission verhinderten.
„Auf dem Papier könnte diese Unireform sogar eine Garantie für mehr Unabhängigkeit sein“, sagt der 32-jährige Áron Molnár. Der Schauspieler gründete vor ein paar Jahren ein Musikprojekt namens noÁr und rappt seitdem für mehr Gerechtigkeit, Demokratie und Toleranz im Land. So viel Zivilcourage ist in Ungarn rar geworden, die meisten haben gelernt, sich aus dem öffentlichen Diskurs rauszuhalten. Kritik an der Politik Viktor Orbáns bringt nur Gefahren, aber zu Änderungen führt sie nie, das ist das Gefühl der älteren Generationen.
Molnár ist das aber egal, er sagt, sollte er eine Rolle wegen seiner Meinung verlieren, dann möchte er sie auch nicht haben. Kein Wunder, dass die Studierendenvereinigung sich bei ihm meldete, als sich im Juni die bevorstehende Entmachtung der SZFE abzeichnete. Sie wollten mit ihm ein Lied schreiben, das ihre Situation erklärt.
Die StudentInnen kritisieren in erster Linie, dass der Umbau von oben erzwungen wurde, erklärt Molnár. Die Beteiligten wurden umgangen, ein Gesetz ohne jegliche Debatte verabschiedet. Und dann, als sich alle bereits in die Ferien verabschiedet hatten, wurde das Kuratorium der neuen Stiftung bekanntgegeben.
Die Uni soll konservative Kunst fördern
Die fünf Mitglieder dieses Kuratoriums stehen der Regierung nahe, ein Mitspracherecht bei der Ernennung wurde niemandem eingeräumt. Die Stiftung wird von Attila Vidnyánszky angeführt, er ist gleichzeitig Intendant des Nationaltheaters. Er ist stolz, der liberalen Elite die Stirn zu bieten, und verspricht eine ideologische Kehrtwende: Die Universität soll konservative, christliche Kunst fördern.
Dass die Umstrukturierung einer Entmachtung gleichkommt, zeigte sich schnell: Das Kuratorium hat als eine seiner ersten Amtshandlungen dem Rektor und dem Senat alle wichtigen Befugnisse genommen, zum Beispiel über Budget und Lehrkräfte zu entscheiden. Stattdessen trifft Vidnyánszky alle Entscheidungen allein.
Vor drei Wochen sahen dann die StudentInnen keinen anderen Ausweg, als die Besetzung ihrer Universität zu verkünden. Sie wollen nur dann verhandeln, wenn zuvor alle Reformen zurückgenommen werden, und das Kuratorium bis zum letzten Mitglied abdankt. Die DozentInnen unterstützen ihren Kampf, indem viele von ihnen gekündigt haben oder ihre Ämter ruhen lassen. Vidnyánszky kann die Fortsetzung des Unterrichts unmöglich garantieren, solange er keine Angestellten hat.
Das akademische Jahr fängt aber bald an. Die StudentInnen planen, eine „geheime“ Uni zu starten. Sie wollen ihren Unterricht im besetzten Haus selbst organisieren. Ihre ehemaligen Lehrer stehen bereit, sie würden auch ohne Bezahlung kommen.
Ein Dozent trifft die StudentInnen im Café
Ein Fernsehfachmann, ein langjähriger Gastdozent, lacht: Das Unihonorar sei auch vor der Besetzung schon so niedrig gewesen, dass es nicht mal für das Parken reichte. Aber er werde weiter zum Unterricht kommen, auch wenn die neue Führung der Universität ihre Position am Ende doch halten kann. Er kann seine StudentInnen auch im Café treffen. Man könne doch nicht zulassen, dass diese große Zahl junger Menschen von wirren ideologischen Nationalisten unterrichtet werde, sagt er. Seinen Namen nennt er nicht, denn sein Arbeitgeber will die Regierung nicht provozieren.
Auch die als Gäste zum Protest geladenen früheren AbsolventInnen müssen lange nachdenken, ob sie die öffentliche Stellungnahme wagen. Die junge Generation aber ist wild entschlossen. Sie sind die VerliererInnen der vergangenen Jahre. Sie haben mit angesehen, wie Orbán einen Kulturkampf angezettelt hat, wie politische Treue und die Fähigkeit, sich stumm zu stellen, wichtiger wurden als Talent oder fachliche Eignung.
Denn: Wo der Staat das Geld bereitstellt, wird eine Gegenleistung erwartet. Wer aus der Reihe tanzt, kann jede Förderung vergessen. Wie der vielfach ausgezeichnete Theatermacher Béla Pintér sagte: „Die Vorgängerregierung gab uns Geld, die Regierung Orbán gibt uns Stoff für unsere Dramaturgen.“
Diejenigen, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen, sehen das düsterer. Die Zahl der unabhängigen KünstlerInnen und Werkstätten schrumpft und gleichzeitig versperrt die Pandemie den letzten Ausweg: in andere EU-Staaten zu gehen, um dort mit ihren Talenten voranzukommen.
Die Pandemie und die Rezession nehmen den StudentInnen die Hoffnung, einmal eine Arbeit zu finden, ohne sich verstellen zu müssen. In der vierten Woche ihres Protestes stehen sie am Scheideweg. Sie müssen aber auch erkennen, dass die Regierung keine Einigung mit ihnen sucht. Orbán hofft, dass sie müde werden, dass sie sich zerstreiten. Die Film- und TheaterstudentInnen leben die Rolle ihres Lebens. Sollten sie siegen, wäre ihr Protest die Blaupause für das ganze Land.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste