Beschreibung sexualisierter Gewalt: Debatte statt Hetze
Nach einem Text in der taz zum Thema Vergewaltigung bekommt die Autorin Vergewaltigungsdrohungen – aber auch differenzierte Kritik.
Es gibt sie, diese Texte, die man zweimal lesen muss. Einmal für den Überblick, ein zweites Mal, nachdem man sich den Schaum vom Mund gewischt hat. Mithu Sanyal und Marie Albrecht haben einen solchen in der taz veröffentlicht.
Sie beschäftigen sich darin mit dem Begriff „Opfer“ in Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt und argumentieren, dass mit „Opfer“ bestimmte Vorstellungen verbunden sind, aus denen es schwer sei auszubrechen. Daher brauche es eine andere, aktivere Selbstbeschreibung. Sie schlagen „Erlebende sexualisierter Gewalt“ als mögliche Form vor.
Darüber lässt sich streiten, unbedingt. Ebenfalls in der taz erschien ein Debattenbeitrag von Simone Schmollack. Die Passivität, die Sanyal und Albrecht in ihrem Text am Opferbegriff kritisieren, hält Schmollack gerade für wichtig.
Später veröffentlichte der Blog „Störenfriedas“ einen „Offenen Brief gegen die sprachliche Verharmlosung sexueller Gewalt“, der gegen Sanyals These Unterschriften sammelte. Darüber wiederum berichtete die Emma.
Ungeladene Gäste
Mit der steigenden Aufmerksamkeit für den Text kam der Hass – denn rechte Trolle sind leider treue Leser feministischer Seiten. Mittlerweile ist bei „Politically Incorrect“ ein Eintrag zu finden, in dem direkt auf Sanyals E-Mail-Adresse verwiesen wird. Diese ist ohnehin zugänglich, ja, aber auf einer Seite, die Sanyals These als „Ideologie der Menschenverachtung“ beschreibt, ist die Veröffentlichung nur schwer anders als eine Einladung zu Hass-Mails zu verstehen. Natürlich bittet die Seite aber um eine „höfliche und sachlich faire Ausdrucksweise“.
Wie höflich die E-Mails sind, die Sanyal nun bekommt, beschreibt die Autorin in einem Beitrag bei der Huffington Post: Ihr schrieben Menschen, „die mich nicht kennen und nichts über mich wissen, und wünschen mir, dass ich vergewaltigt werde, weil sie Opfer schützen wollen. Wie kann das Schutz von Opfern sein?“
Die „Wünsche“ in anderen Nachrichten sind noch brutaler. An anderer Stelle im Netz seien ihre Telefonnummer und Adresse veröffentlicht worden. Woher kommt der Hass?
Oft wird in den Beiträgen angenommen, dass Sanyal, weil sie als Expertin für dieses Thema gilt, nie Gewalterfahrungen gemacht habe. 40 Prozent der Frauen über 16 Jahren in Deutschland haben körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt. Die Koautorin des Textes hat sexualisierte Gewalt erfahren und im Heimweg-Blog der taz darüber geschrieben.
Sachliche Kritik
Überhaupt: Der Wunsch, einen anderen Begriff für Opfer sexualisierter Gewalt zu finden, entsprang einer Debatte unter Opfern sexualisierter Gewalt, die meinten: „Ich bin kein Opfer.“ Diese Aussagen ernst zu nehmen ist nun genauso wichtig wie diejenigen, die der genau entgegen gesetzten Meinung entspringen.
Während sich die Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch en détail und sehr differenziert kritisch mit den Argumenten Sanyals und Albrechts auseinandersetzt, werden in dieser „Debatte“ ansonsten Textstellen der Autorinnen wiederholt so verkürzt dargestellt, dass sich so auch gar nicht erst sinnvoll diskutieren lässt.
So werden aus „Erlebenden sexualisierter Gewalt“ im Originaltext nur noch „Erlebende“. Außerdem heißt es, die beiden Autorinnen würden fordern, überhaupt nicht mehr von „Opfern“ zu sprechen. Dabei schreiben sie explizit: „Selbstverständlich soll ‚Erlebende‘ andere Bezeichnungen nicht ersetzen.“ Mit jedem Teilen des Textes im Netz geht ein bisschen Wahrheit verloren.
Es geht schon längst nicht mehr um den Text. Wir sehen hier eine Netzjagd auf eine Frau, wie sie leider immer wieder zu beobachten ist. Debatten sind gut. Debatten sind wichtig. Aber was ist eine Debatte wert, die dazu führt, dass eine Frau Vergewaltigungsdrohungen zugeschickt bekommt? Wie müssen Medien damit umgehen, dass sie ihre Autor*innen realer Gewalt aussetzen, wenn sie sie über Triggerthemen wie Feminismus oder sexualisierte Gewalt schreiben lassen? Mithu Sanyal erlebt gerade verbale Gewalt. Sie ist Opfer verbaler Gewalt. Und hier ist es nun reichlich egal, wie wir diesen Satz bilden.
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