Beschreibung sexualisierter Gewalt: Wer vergewaltigt wurde, ist ein Opfer
Betroffene einer Vergewaltigung werden zu Objekten gemacht. Eine Replik auf die Einführung des Begriffs „Erlebende“.
Stellen Sie sich vor, eine Freundin erzählt Ihnen, sie sei vergewaltigt worden. Oh Gott, werden Sie denken: Die Arme! Was sie wohl durchgemacht hat? Vielleicht stellen Sie sich die Gewalt vor, die Ihre Freundin bei dem Übergriff erfahren hat, heftige Schmerzen im Unterleib. Sie denken an zerrissene Kleidung, an blaue Flecken an Armen und Beinen. Sie fühlen zutiefst mit Ihrer Freundin und wollen helfen. Und dann sagt die Freundin: Das war zwar die schlimmste Erfahrung in meinem bisherigen Leben, aber nenn mich bitte niemals Opfer. Ich möchte lieber „Erlebende sexualisierter Gewalt“ genannt werden.
Was würden Sie dann denken? So was wie: Klar, warum nicht, sie hat die Vergewaltigung schließlich überlebt, das Leben geht ja weiter. Wer will schon Opfer sein?
Oder denken Sie vielleicht: Will die mich verarschen? Sie ist vergewaltigt worden, tut jetzt aber so, als habe das mit ihr nichts zu tun, weil sie nicht als Opfer dastehen will?
Die Formulierung „Erlebende sexualisierter Gewalt“ haben sich die Autorin Mithu Sanyal und Marie Albrecht, Studierende sozialer Arbeit (taz.am Wochenende vom 11./12. Februar), ausgedacht. Damit wollen sie Opfer aus der Schublade holen, in die diese nach Meinung Sanyals und Albrechts häufig gesteckt werden. Sie weisen mit ihrer Begriffsneufindung auf die negative Zuschreibung hin, die beim Opfer-Begriff häufig mitschwingt: Loserstatus, Passivität, Erstarrung.
Zum Sexobjekt gemacht
Die beiden Frauen haben absolut recht: Betroffene sexueller Gewalt sind keine Loser, sie sind auch nicht in jedem Fall passiv und reaktionsgehemmt. Die Zahl der Anzeigen nach Partnerschaftsgewalt und Vergewaltigungen steigt. Immer mehr Frauen gehen zur Polizei und machen das Erlebte öffentlich. Sie sind im besten Sinne aktiv.
Und doch ist die strikte Zurückweisung des Opfer-Begriffs fragwürdig und zutiefst irritierend. Was sonst als Opfer sollen Frauen (und Männer) sein, die sexuelle und sexualisierte Gewalt erfahren? Sie sind Opfer eines Verbrechens geworden, bei dem sie keine handelnden Subjekte mehr waren, wie der Begriff „Erlebende“ suggerieren will. Sondern im Gegenteil: Bei einer Vergewaltigung wird das Opfer zum (Sex-)Objekt gemacht. Sexualisierte Gewalt ist eine schauderhafte Erfahrung. Wer so etwas er- und überlebt hat, wird das sein Leben lang nicht vergessen.
Manche lernen, besser damit umzugehen, andere weniger. Aber niemand wird dazu gezwungen, sich dauerhaft als Opfer zu fühlen. Ebenso wenig wie niemand eine Opferhaltung vor sich hertragen muss, schon gar nicht dauerhaft.
, die sie kontert, erschien in der vorigen taz.am wochenende. Mithu Sanyal und Marie Albrecht begründeten, warum der Begriff „Opfer“ für „Erlebende sexualisierter Gewalt“ die falsche Bezeichnung ist. Nachzulesen ist der Text auch unter taz.de/erlebende.
Die Neuformulierung „Erlebende sexualisierter Gewalt“ schmälert Sexualverbrechen. Die Wortgruppe banalisiert und verniedlicht solche Taten, macht sie harmloser und kleiner. Sie bewirkt das Gegenteil dessen, was Sanyal und Albrecht beabsichtigen.
Sensibler Umgang ist nötig
Die eindeutige Begriffsbipolarität – hier Opfer, dort Täter – dient der Klassifizierung, sowohl juristisch und kriminologisch als auch sozialpsychologisch: Es wird klargestellt, dass jemand einer anderen Person Unrecht angetan hat. Dadurch wird ein Täter nicht automatisch zu einem Monster und ein Opfer nicht automatisch zu einer bemitleidenswerten, passiven Person. Bestenfalls wird das Opfer zu jemandem, der Hilfe braucht und diese bekommen sollte.
Wer heute bei der Polizei eine Vergewaltigung anzeigt, wird intensiv ausgefragt: Was ist genau passiert? Wie lange hat das gedauert? Wurden Gegenstände gegen Sie verwendet? Für nicht wenige Opfer ist das eine Tortur, weil sie sich schämen. Manche empfinden das Erlebte beim Erzählen noch einmal heftig nach. Wenn die Beamten ihren Job gut machen, werden die Betroffenen nicht ein zweites Mal zum Opfer gemacht. Es wird versucht, die Tat aufzuklären und den Betroffenen zu helfen. Das war nicht immer so.
Es hat Jahrzehnte, große Ausdauer und viel Kraft von Frauen- und Opferverbänden gebraucht, bis es Polizeibeamte gab, die sich auf sexualisierte Gewalt spezialisiert haben. Die sich Zeit für die Opfer nehmen, ihnen stundenlang zuhören, sensibel mit ihnen und dem Erlebten umgeben. Die nicht sagen – so wie das noch vor ein paar Jahren war: Selbst schuld, was tragen Sie auch so einen kurzen Rock!
Es hat viel Überzeugungsarbeit bedurft, dass Partnerschafts- und sexuelle Gewalt im Curriculum der Polizeiausbildung mittlerweile eigenständige Bestandteile sind. Dass es Opferschutzbeauftragte und Koordinatorinnen für häusliche Gewalt bei der Polizei gibt. Dass auch im Gerichtssaal mit den Opfern sensibler umgegangen wird.
6.000 türkische Spione gibt es angeblich in Deutschland. Ist Mehmet Fatih S. einer von ihnen? Er soll den Mord an einem kurdischen Funktionär geplant haben. Was passiert ist, lesen Sie in der taz.am Wochenende vom 18./19. Februar. Außerdem: ein Gespräch mit Bestseller-Autor und Gerichtsmediziner Michael Tsokos über die Opfer vom Breitscheidplatz. Und: Die Geschichte eines Amuletts, das im Vernichtungslager Sobibór gefunden wurde. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Zur Erinnerung: Erst seit 1997 ist Vergewaltigung in der Ehe strafbar, seit 2002 gilt das Gewaltschutzgesetz. Neuerdings ist in Deutschland sogar Grapschen strafbar. All diese Gesetze erkennen an, dass es Situationen gibt, in denen Menschen hilflos anderen ausgesetzt und dabei Opfer von Gewalt werden können.
Das sollte man auch genauso deutlich benennen. Und nicht durch eine verwässerte Bezeichnung weichspülen.
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