„Ich soll wohl noch mal
etwas bewegen“

Astrid-Sabine Busse (SPD) hat mitten in der Omikron-Welle den Job als Bildungssenatorin übernommen: Ein Angebot, das sie nicht habe ablehnen können, sagt die ehemalige Schulleiterin

Astrid-Sabine Busse leitete fast 30 Jahre lang die Grundschule in der Köllnischen Heide in Neukölln. Die 64-jährige gebürtige Berlinerin sprach außerdem von 2015 bis 2021 für den Interessenverband Berliner Schulleitungen. Seit Dezember ist sie Berlins neue Bildungssenatorin und zuständig für die Bereiche Schule, Jugend und Familie einschließlich Kita. Sie trat dafür in die SPD ein Foto: Doro Zinn

Interview Anna Klöpper
und Bert Schulz

taz: Frau Busse, am heutigen Montag enden die Winterferien, die Präsenzpflicht ist ausgesetzt. Würden Sie Ihr schulpflichtiges Kind oder Enkelkind in die Schule schicken?

Astrid-Sabine Busse: Selbstverständlich. Ich persönlich hätte ein Kind auch keinen Tag rausgenommen aus der Schule.

Das sagen Sie, ohne zu zögern?

Es laufen ja sehr viele Infektionsschutzmaßnahmen in den Schulen. Und obwohl die Inzidenzen sehr hoch sind, gibt es bei den Kindern kaum schwere Krankheitsverläufe. Ich war bis Dezember noch live dabei als Schulleiterin: Da hatten die meisten Kinder, die positiv getestet wurden, überhaupt keine Symptome. Dazu kommt: Schule ist einfach der beste Lernort für ein Kind – dort hat es den Kontakt zur Lehrkraft, zu den Erzieherinnen und Erziehern, zu den Mitschülerinnen und Mitschülern. Also ja, ich würde mein Kind in die Schule schicken.

Wenn Ihre Position in diesem Punkt so klar ist – warum haben Sie die Präsenzpflicht denn dann überhaupt aufgehoben?

Weil zum einen die Winterferien vor der Tür standen und zum anderen die Infektionszahlen stark angestiegen sind. In den Winterferien wären wir nicht so handlungsfähig gewesen. Wenn die Zahlen über die Ferien jetzt stark steigen sollten, dann hätte man gesagt: Warum haben Sie nicht gehandelt? Und zudem haben uns die Amtsärzte der Bezirke ein Stück weit im Stich gelassen, indem sie die Quarantäne-Nachverfolgung in den Schulen ausgesetzt und vor allem unklar kommuniziert haben.

Das hat Sie geärgert?

Geärgert ist ein großes Wort. Es war wie immer in der Pandemie: Da ist etwas Neues passiert, und wir mussten abwägen. Mir war aber auch klar, dass nur sehr, sehr wenige Eltern von der Aussetzung der Präsenzpflicht Gebrauch machen werden. Die Zahlen liegen im niedrigen einstelligen Prozentbereich.

Also war das Aussetzen der Präsenzpflicht eine Symbolhandlung?

Nein. Die Eltern können sich das Recht nehmen, ihr Kind zu Hause zu lassen – temporär, zum Glück, bis zum 28. Februar. Und dann hoffen wir, dass wir den Peak der Omikron-Welle überstanden haben.

Trotzdem: Infektiologisch macht es keinen großen Unterschied, wenn nur wenige das Aussetzen der Präsenzpflicht in Anspruch nehmen. Warum haben Sie nicht entschieden: Dann halbieren wir die Klassen konsequent und machen Wechselunterricht? Medizinisch wäre es sinnvoller gewesen und auch für die Schulen wohl leichter planbar.

Also, das Wort planbar deckt sich nicht wirklich mit der aktuellen Schulwirklichkeit – auf dem Papier ist das vielleicht so, aber wir haben das doch alles durchgespielt in den Schulen …

Deswegen ja – die Schulen müssten ihre Konzepte vom letzten Frühjahr doch noch in der Schublade haben.

Wir haben eine andere Situation – letztes Jahr hatten wir Delta, jetzt haben wir Omikron. Wechselunterricht wird jetzt teilweise gar nicht mehr möglich sein, weil nicht nur viele Kinder infiziert sind, sondern auch die Pädagoginnen und Pädagogen. Da müssen die Schulen täglich morgens umplanen und Schwerpunkte setzen: Wer bekommt jetzt noch das bestmögliche Unterrichtsangebot? Wechselunterricht ist aktuell oft nicht mehr durchführbar, das ist ein hoher Aufwand. Außerdem kann ich Ihnen sagen: Die Gruppe, die zu Hause war, hat zuweilen wenig gemacht im Wechselunterricht – das habe ich erlebt, als ich letztes Jahr noch als Lehrerin vor einer Klasse stand.

Diese SchülerInnen verlieren Sie aber doch jetzt mit der ausgesetzten Präsenzpflicht auch.

Ja, aber die Zahl ist noch marginal. Zudem denke ich, dass nach den Ferien noch weit weniger vom Aussetzen der Präsenzpflicht Gebrauch machen werden. Und wie gesagt, dann hoffe ich, dass auch die Inzidenzen wieder sinken werden.

Dennoch: Können Sie nicht nachvollziehen, dass viele Eltern sich jetzt alleingelassen fühlen mit der Entscheidung, ob sie ihr Kind morgens noch zur Schule schicken?

Wer sind denn „die“ Eltern? Wir haben ungefähr 700.000 Eltern – und da müssen wir auch mal sehen: Wer spricht, wer schreibt? Dann relativiert sich vieles.

Dass einige lauter sind als andere, setzt Sie überhaupt nicht unter Druck?

Sie, ich, wir alle müssen viel aushalten. Und ich hoffe auf den März, dass wir dann zurückkehren in die volle Präsenzpflicht.

Testen, um bleiben zu können: Ab Montag gilt in Kitas und Schulen das „Test-to-stay“-Prinzip Foto: Peter Kneffel/dpa

Der Virologe Christian Drosten sieht die Schulen inzwischen in der Omikron-Welle ganz klar als Pandemietreiber.

Herr Drosten – und andere Fachfrauen und -männer – haben auch lange die gegenteilige These vertreten.

Jetzt aber nicht mehr. Ändert das etwas für Sie?

Die Erkenntnislage ändert sich ja quasi jeden Tag, auch die der Expertinnen und Experten. Das muss ich aushalten. Das Problem ist die Schnelligkeit, mit der wir oft Entschlüsse fassen müssen. Aber dem Virus ist das natürlich egal.

SchülervertreterInnen haben unter #wirwerdenlaut ihrem Frust Ausdruck verliehen, dass sie sich von der Politik nicht geschützt fühlen. Können Sie das nachvollziehen?

Berlin erfüllt ja ganz viele Forderungen der Schülerinnen und Schüler schon. Zum Beispiel bei der Forderung nach Luftfiltergeräten: Da sind wir ganz weit vorne.

Gilt die Vorgabe Ihrer Amtsvorgängerin noch, in jedem Klassenraum müsse ein Lüfter stehen?

Wir haben jetzt so viele ausgeliefert, dass jeder Klassenraum rechnerisch mit einem Filtergerät ausgestattet werden kann. Konkret: Rund 23.000 Geräte wurden ausgeliefert, 7.000 kommen noch. Aber ich sage auch: Die Luftfiltergeräte sind kein Allheilmittel. Man muss immer noch lüften.

Das Aussetzen der Präsenzpflicht wird kaum in Anspruch genommen, Wechselunterricht scheitert am Personal, die Luftfilter sind nicht das Allheilmittel. Was dann?

Wenn ich das Allheilmittel wüsste, säße ich hier nicht mit Ihnen auf der Couch.

Wir könnten auch fragen: Was ist Ihre Strategie? Setzen Sie auf die Impfquote, aufs Frühjahr?

Die Impfquote steigt ja leider sehr langsam.

Das ist ja das Problem.

Nehmen Sie zum Beispiel das Testen in den Schulen: Wir testen in den ersten zwei Schulwochen jedes Kind fünfmal pro Woche. Es ist wirklich eine logistische Meisterleistung, den Schulen diese Tests bereitzustellen; die müssen auf dem Weltmarkt ja erst mal beschafft werden. Aber wir können liefern, die Schulen bekommen pünktlich ihre Tests. Und dann haben wir immer noch, nicht zu vergessen, die Maskenpflicht in den Schulen – die Kinder tragen den ganzen Tag im Unterricht Maske. Ich finde das ja schlimm, aber es muss sein.

Wann wissen die Eltern, wie es nach dem 28. Februar mit der Präsenzpflicht weitergeht?

Vor dem 28. Februar.

Der 28. ist ein Montag, also bekommen die Schulen die Nachricht am Freitag davor?

Ich weiß, dass viele Schulleitungen in der Vergangenheit kritisiert haben, dass neue Maßgaben sehr kurzfristig vor dem Wochenende angekündigt wurden. Ich habe das als Schulleiterin selbst kritisiert. Jetzt weiß ich, warum es manchmal nicht anders möglich ist. Da gibt es so viele Abteilungen und Gremien, die mit beteiligt werden müssen. Aber es bleibt mein Wunsch, dass wir in Zukunft nicht erst freitags informieren.

Sie waren lange Vorsitzende eines SchulleiterInnenverbands. Was unterscheidet eine Politikerin von einer Lobbyistin?

Als Lobbyistin bin ich völlig frei. Da kann ich wünschen, da kann ich fordern. Jetzt bin ich in meinem dritten Beruf – nach Lehrerin und Schulleiterin – plötzlich Politikerin. Das muss ich von der Pike auf neu lernen. Auch wenn ich eine große Schule mit mehreren hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterin geleitet habe – eine Verwaltung mit 2.000 Menschen ist noch mal etwas völlig anderes. Die Tage sind sehr dicht getaktet, aber immer, wenn ich mal eine Pause habe, gehe ich raus und öffne hier ein paar Türen und sage: Hallo, ich bin Frau Busse, und was machen Sie hier, was ist Ihre Aufgabe?

Haben Sie unterschätzt, was Verwaltung bedeutet?

Was man nicht kennt, kann man nicht unterschätzen. Aber es ist noch immer ein spezielles Gefühl, nun plötzlich auf der anderen Seite zu stehen. Wobei die sechs Wochen, die ich gerade erst im Amt bin, sich bereits anfühlen wie ein Jahr. Die Tage sind, wie gesagt, sehr dicht getaktet. Wir wollen hier ja anpacken.

Was war Ihre Motivation zu sagen: Die Herausforderung als Senatorin nehme ich jetzt noch mal an?

Ich habe mich ja nicht beworben. Ich wurde gefragt. Und da habe ich gesagt: So ein Angebot, das ist auch Schicksal, das kann ich nicht ablehnen. Ich soll ganz offensichtlich noch mal etwas bewegen. Was ich allerdings nicht in Gänze gewusst habe, ist der Umfang der Aufgaben, der auf mich zukommen würde. Das hat man mir wohlweislich auch nicht erzählt. (lacht)

Eine große Aufgabe bleibt der Personalmangel. Rot-Grün-Rot will LehrerInnen wieder verbeamten. Warum wird das das Problem lösen?

Die Inzidenz in Berlin ist am Wochenende erstmals wieder leicht gesunken und lag am Sonntag bei 1.727,5. Zuvor lag der Wert seit Tagen bei rund 1.800. Bei den SchülerInnen liegen die Inzidenzen allerdings laut Lagebericht der Gesundheitsverwaltung bei über 3.000.

Am Montag enden in Berlin die einwöchigen Winterferien. Damit gilt eine neue Teststrategie an den Schulen: Wird in einer Klasse ein Kind positiv getestet, wird die ganze Lerngruppe – einschließlich der Lehrkraft – fünf Tage lang schnellgetestet („Test-to-stay-Prinzip“). Kontaktpersonen werden nicht mehr extra ermittelt; nur noch Infizierte bekommen einen Quarantänebescheid vom Gesundheitsamt. Außerdem sollen am Montag alle SchülerInnen frisch getestet in die Schule kommen – dafür hatten die Schulen vor den Ferien Testkits für zu Hause ausgegeben. In den ersten zwei Wochen wird täglich getestet, danach wieder dreimal wöchentlich. (taz)

Das hat niemand gesagt. Ich stehe trotzdem dahinter.

Aber warum dann dieses teure Projekt?

Wir sind das einzige Bundesland, das nicht verbeamtet. Und ich habe als Schulleiterin oft erlebt, dass Kolleginnen und Kollegen an meiner Schule gesagt haben: „Ist schön hier, ich würde auch bleiben. Aber ich gehe jetzt mal über die Landesgrenze, werde verbeamtet – und irgendwann komme ich dann zurück.“ Die Verbeamtung ist ein Baustein, um neues Personal zu gewinnen.

Was sind Ihre anderen Bausteine?

Lehrerkräfte und Erzieherinnen und Erzieher haben leider nicht die Lobby, die sie verdienen – was sie leisten, haben viele Eltern erst während des Homeschoolings erkannt. Wir müssen vor allem die jungen Menschen – etwa an der Universität – motivieren und zeigen, dass das einer der tollsten Berufe der Welt ist.

Und wie schaffen Sie das?

Indem auch ich als Person dafür werbe.

Halten Sie mal eine Vorlesung?

Warum nicht? Darüber hinaus bin ich auch präsent in den Medien und kann über den Beruf aus tiefster Überzeugung sprechen. Sie können mich gleich losschicken, ich mach auch noch eine Klassenfahrt mit zwei Grundschulklassen und schaffe es, mit denen im Berufsverkehr dreimal umzusteigen – das ist gar nicht so einfach.

Ewiger Zankapfel Neutralitätsgesetz: Berlin will mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht über das Gesetz reden. Wie sollen Schulleitungen mit dem aktuellen Schwebezustand umgehen?

Derzeit gilt das Neutralitätsgesetz noch. Erst wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet, müssen wir gegebenenfalls handeln. Es kann nicht sein, dass jede Schule einzeln entscheiden muss. Das würde sie in große Konflikte bringen.

Viele Initiativen fordern, sich an der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu orientieren. Das sagt, jeder Einzelfall müsse geprüft werden.

Wir müssen jetzt das Urteil des höchsten deutschen Gerichts abwarten und dann auch annehmen.

Wann rechnen Sie mit dem Urteil?

Das dauert noch.

Sind Sie für das Neutralitätsgesetz?

Ja. Eine staatliche Schule ist ein neutraler Raum. Aber ich bin nicht die Entscheidende.

Ich bin ein taz-Blindtext. Von Geburt an. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe,

Noch mal zu Corona: Auch in den Kitas ist die Lage schwierig, ab Montag gilt – wie in den Schulen – das „Test-to-stay“-Prinzip: Kontaktpersonen sollen nicht mehr in Quarantäne, sich aber fünf Tage lang testen. Wer hat das erfunden?

Na, die Amtsärzte.

Jene, die sie an den Schulen im Stich gelassen haben.

Kita ist ein anderer Bereich als Schule, es gibt ja keine Kitapflicht. Wir haben die wunderbaren Lolli-Tests eingeführt, und klar wollen wir so weit wie möglich das Betreuungsangebot aufrechterhalten. Das ist nicht leicht. Wir mussten die Öffnungszeiten einschränken und rund 375 vor allem kleine Einrichtungen sind gerade geschlossen.

Können Sie den Vorwurf von Beschäftigten nachvollziehen, dass man sich als „Versuchslabor“ fühlt?

Das ist der Situation geschuldet. Vorwürfe gibt es immer, aus jeder Ecke – das habe ich jetzt nach sechs Wochen schon gelernt. Aber es geht uns darum, die Kitas offen zu halten. Mir schreiben berufstätige Eltern, die verzweifelt sind, weil sie nicht wissen, wie sie sonst ihre Kinder betreut bekommen. Im Moment gibt es keine anderen Lösungen.

Im Bildungsausschuss haben Sie jüngst noch von „meiner Schule“ gesprochen und Ihre alte Grundschule in Neukölln gemeint. Sind Sie im Herzen noch dort?

Ich kriege Post von den Kindern. Es ist halt noch so frisch.