Berliner Wohnungsmarkt: Rein in die Enge
Republikweit spitzt sich ein Grundsatzkonflikt zu. Seine Kernfrage: Wem gehört die Stadt? Der baden-württembergische Blick auf die Kapitale.
B ei der Trennung nach acht Jahren geht das gute Porzellan zu Bruch, doch weil sich heute niemand mehr eine eigene Wohnung leisten kann, müssen die vormals Verpartnerten erst mal weiterhin zusammenleben. In der Bewerbungsmappe für die nächsten zwölf Superspreader-Besichtigungen entblößen sich denn auch aus Verzweiflung Gedrängte standardisiert bis auf die Schufa-Auskunft; vermutlich wird als Nächstes das erweiterte Führungszeugnis verlangt.
Aus Verlegenheit wandelt sich der Traum vom Leben mit Privatsphäre in die Realität einer Wohngemeinschaft ohne bürgerliche Kategorien. In diesem Sinne unterbreitet ein Berliner Online-Inserat ein „sehr spezielles Angebot“: „(…) keine getrennten Zimmer (…), da die Zimmer über eine Treppe verbunden sind. (…) Insgesamt sollte man also ein bisschen hippiemäßig drauf sein, um das hier so offen genießen zu können.“
Wenn die Wohnungsnot zum Thema wird, also: fast immer und überall, ähneln sich die Geschichten aus Großstädten. Meist berichten sie von den Demütigungen, die Protagonist:innen auf sich nehmen müssen. Die schlimmsten Erlebnisse kann in der Regel schildern, wer zuletzt auf der Suche war. Und wo sich Menschenmengen auf den Straßen der deutschen Hauptstadt sammeln, ist auf den ersten Blick manchmal nicht zu unterscheiden, ob es sich um eine Demonstration gegen Mietenwahnsinn handelt oder um die Warteschlange für eine Besichtigung.
Dabei sind die Konditionen am Berliner Wohnungsmarkt – man traut sich kaum, es auszusprechen in Berlin – noch relativ attraktiv. Zumindest wenn als Vergleichsgröße Verhältnisse wie in Stuttgart herhalten müssen, wo die teuersten Mieten der Republik selbst Ärzt:innen in Zweck-WGs treiben und sich Einkommensarme teils schon glücklich schätzen, wenn sie sich für ein halbes Monatsgehalt auf Besenkammergröße verzwergen dürfen. Die Preise liegen im Schnitt ein saftiges Drittel über denen in Berlin.
Der großen Not zum Trotz regt sich dort recht wenig. So gibt es in der protesterprobten Stadt zwar per Megafon vorgetragene Unmutsbekundungen. Die Personenzahl, die sich dabei mobilisieren lässt, blieb bislang allerdings weit hinter dem Zulauf beim querdenkerischen Wahnwichteln zurück, ganz zu schweigen von den Massen, die zu den Hochphasen der Bewegung gegen Stuttgart21 unterwegs waren. Aktuell wäre eine mehrheitsfähige Initiative für Enteignungen auf baden-württembergischem Hoheitsgebiet ebenso undenkbar wie eine grüne Spitzenkandidatin, die ein solches Vorhaben unterstützt. „Ich werde ein ‚Ja‘ ankreuzen“, bekennt jedoch Bettina Jarasch, Listenplatz 1 bei den bevorstehenden Abgeordnetenhauswahlen.
Am 26. September stimmt Berlin darüber ab, fast eine Viertelmillion Wohnungen, die sich gegenwärtig noch im Besitz profitorientierter Immobilienunternehmen befinden, gegen eine Entschädigung in Staatseigentum zu überführen. Am frühesten und entschiedensten wurde die Initiative von der Linken befürwortet. Doch obwohl sich in diversen Umfragen eine leichte, aber konsistente Mehrheit für eine Zustimmung seitens der Bevölkerung abzeichnet, stößt das Vorhaben im Parteienspektrum größtenteils auf Ablehnung.
Franziska Giffey, die als Kandidatin der SPD beste Aussichten hat, Regierende Bürgermeisterin zu werden, erklärt Enteignungen zu einer roten Linie. Der FDP-Spitzenkandidat Sebastian Czaja nannte die Abstimmung jüngst „brandgefährlich, auch für das Investitionsklima in unserer Stadt“. Und Jan-Marco Luczak, für die CDU im Bundestag und dort Mietenexperte seiner Fraktion, wertet die geplante Enteignung auf Anfrage der taz sogar als einen „Anschlag auf die Freiheit jedes Einzelnen“, denn: „Wer die Grundfesten des Eigentums infrage stellt, stellt auch die Grundfesten unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung infrage.“
Dass der Tonfall so kurz vor der Wahl rauer wird, erklärt sich Jonas Becker mit einer wachsenden Angst der Enteignungsgegner. „Anfangs wurde das Vorhaben noch belächelt, weil es da noch niemand für möglich gehalten hat, dass es wirklich so weit kommen könnte“, sagt der Aktivist, der für den Volksentscheid Unterschriften gesammelt hat. Dabei haben er und Gleichgesinnte eine große Bandbreite an Reaktionen erlebt: DDR-Vergleiche, wüste Beleidigungen oder entwendete Klemmbretter gehörten dazu. Klar sei das ein emotional sehr aufgeladenes Thema, meint Becker. Aber mit den allermeisten Menschen habe man sachlich diskutieren können.
Aus der Not wird in Berlin schnell eine existenzielle
Er ist im Stuttgarter Umland aufgewachsen, kennt die Gegend gut und pflegt noch ein paar Bekanntschaften dort. Was in Berlin der Unterschied ist? Jonas Becker vermutet, dass es zum einen am niedrigeren Durchschnittseinkommen in der Hauptstadt liege, das aus der Not schnell eine existenzielle machen könne. „Und dann ist die Geschwindigkeit, mit der die Preise hier explodiert sind, ein riesiger Faktor.“ So ist Berlin zwar noch lange nicht die teuerste Stadt in Deutschland – aber die, die am schnellsten teurer wird. Bei einem Bevölkerungsanteil von 85 Prozent, denen die Räumlichkeiten, die sie bewohnen, nicht gehören, gebe es sehr viele in der Stadt, die sich gegen die Entwicklung wehren wollten. Sogar eher unpolitische Menschen würden da aktiv werden.
Von großer Verunsicherung in Berlin spricht auch CDU-Politiker Luczak – und klagt an: „Die Linke, aber auch andere Parteien, die den Volksentscheid unterstützen, instrumentalisieren diese Ängste zu politischen Zwecken.“ Das finde er zynisch. Denn man müsse auch „darauf hinweisen, dass man oftmals gar keine Angst vor Verdrängung haben muss. Mieterinnen und Mieter sind durch die bestehende Rechtslage gut geschützt – das ist gut und richtig, wir brauchen starke soziale Leitplanken im Mietrecht.“ Zu viel Regulierung soll es aber nicht sein und das wichtigste Mittel ist und bleibt für ihn der schnellere und günstigere Neubau im größeren Stil: „Nur so beseitigen wir die Ursachen steigender Mieten und packen das Problem an der Wurzel.“
Florian Schmidt stimmt zwar zu, dass Berlin auch Neubauten braucht. Aber da enden die Gemeinsamkeiten mit seinem politischen Kontrahenten auch schon. „Den Neubau allein halte ich als Mittel für etwas überbewertet“, sagt der grüne Bezirksstadtrat für Friedrichshain-Kreuzberg, „natürlich braucht es mehr Sozialwohnungen, aber kommerzieller Wohnungsbau durch profitorientierte Investoren ist für mich eher kein Teil der Lösung.“
Die Preisentwicklung am Berliner Markt bezeichnet Schmidt gegenüber der taz als einen „Wahnsinn, der einfach inakzeptabel ist“. So viel Neubau, dass damit die schon jetzt zu hohen Mieten in den Griff zu kriegen sind, sei gar nicht möglich: „Wir können ja schlecht die Stadt verdoppeln.“ Daher plädiert er für neue Wege wie zum Beispiel Vorkaufsrecht, Mietendeckel oder auch Enteignung.
Verzweifelte Versuche der Gesellschaft
Die Wohnungsnot ist inzwischen das Klimawandelthema der Sozialpolitik: Keine der ernstzunehmenden Parteien bestreitet grundsätzlich, dass ein massiver Missstand besteht. Dennoch gelingt es bislang nicht, das Problem effektiv einzudämmen. Und Versuche aus der Gesellschaft, auf die Dringlichkeit der Lage hinzuweisen, können mitunter verzweifelte Züge annehmen.
Die radikalste Protestform, zu der sich die Stuttgarter Zivilgesellschaft in jüngerer Vergangenheit hat durchringen können, war eine Hausbesetzung im Westen der Stadt. Im Mai 2018 zogen dort zwei junge Familien ohne Erlaubnis in Wohnungen ein, die zuvor seit Jahren leer standen.
Der Plan, Aufmerksamkeit auf eine dramatische Situation zu lenken, ist durchaus aufgegangen: Am 4. Juni 2018 eröffnete das „heute journal“ mit einem Beitrag über die Besetzung in Stuttgart. Moderator Claus Kleber wollte die Sendung lieber mit einem Bericht über „echte Probleme“ starten, als sich dem aktuellsten Zank zwischen CDU und CSU zu widmen. Beim Ziel, die Politik zu einer Trendwende zu bewegen, ist das Vorhaben der Besetzer:innen jedoch auf ganzer Linie gescheitert. Die Stadtpolitik schlug sich schließlich voll auf die Seite der wohlhabenden Eigentümerfamilie.
Nach einem Monat rückte eine Hundertschaft der Polizei zur Zwangsräumung in der Wilhelm-Raabe-Straße an, die beiden Familien – von ihrer prekären Finanzlage zur Verzweiflungstat gedrängt – bekamen den Kostenbescheid in Höhe von 11.200 Euro in Rechnung gestellt. Die zwischenzeitlich mit Leben gefüllten Wohnungen stehen seitdem wieder und bis heute leer. Mit dem Unterschied, dass die Türen zum Treppenhaus mit Holzbrettern zugenagelt wurden. Obendrein konnten zwei reguläre Bewohner:innen der Immobilie erfolgreich entmietet werden, sodass sich der Leerstand noch vermehrt hat.
Nach der Räumung zog eine alleinerziehende Mutter zusammen mit ihrem Sohn wieder bei der Schwester ein, wo sie sich schon vor der Besetzung ein Zimmer geteilt hatten. Die andere Familie – Vater, Mutter und eine damals zweijährige Tochter – hatte mehr Glück und fand eine Bleibe, in der sie sich zu dritt auf 43 Quadratmetern arrangieren konnten. Die Besetzer:innen wurden buchstäblich in die Enge getrieben.
Weil Hilferufe bislang kein wirksames Gegensteuern herbeiführen konnten, muss die zum Mieten genötigte Mehrheitsbevölkerung nun schon seit geraumer Zeit allerlei Zumutungen über sich ergehen lassen. In Form der Enteignungsdebatte hat sich aktuell ein zentraler Grundsatzkonflikt zugespitzt, der sich auf eine Kernfrage reduzieren lässt: Wem gehört die Stadt?
Immobilienkonzerne mittlerweile im DAX
Spannend für die Beurteilung ist dabei ein noch recht neuartiges Börsenphänomen: Bis vor fünf Jahren hat es noch nie ein Immobilienkonzern unter die Spitzenunternehmen im Deutschen Aktienindex (DAX) geschafft. Heute ist dort nicht nur die Deutsche Wohnen präsent. Der Vonovia, die eine Million Menschen in der Bundesrepublik beherbergt, gelang im September 2020 sogar der Aufstieg in den Euro Stoxx, wo die 50 wertvollsten börsennotierten Unternehmen Europas gelistet sind. Die Konkurrenten dort sind Größen der Industrie wie Total, Unilever oder SAP.
Parallel dazu sind die Angebotsmieten in allen Großstädten dramatisch angestiegen und in der Hauptstadt haben sie sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt. Die Löhne eher nicht. Krise ist, wenn unverzichtbare Grundbedürfnisse nicht mehr bezahlbar sind. In Verbindung mit Lebensmittelpreisen, die im Vergleich zum Vorjahr um ein Viertel gestiegen sind, zeichnet sich hier eine Dynamik ab, die eine Menge sozioökonomischen Sprengstoff bergen dürfte.
Beim Thema Wohnen wurde politisch so viel versemmelt, sagt der grüne Baustadtrat Schmidt, dass es jetzt die Zivilgesellschaft brauche und jede Kurskorrektur ein Langzeitprojekt sein müsse. „Gerade gibt es eine große Aufbruchsstimmung in Berlin“, sagt er. „Aber den Immobilienmarkt umzustellen, damit Wohnraum keine Spekulationsware mehr ist, sondern sich am Gemeinwohl ausrichtet – das wird einen langen Atem brauchen.“ Die Lage in Berlin hält er für eine Art Laborsituation: Wenn sich hier Mittel und Wege finden lassen, die Preisexplosionen am Wohnungsmarkt einzudämmen und vielleicht sogar ein Stück weit umzukehren, werde der Druck auch anderswo steigen, es genauso zu machen.
Wie deprimierend manch eine Lage bisweilen ist, lässt sich oft daran ablesen, was Hoffnung macht. In Stuttgart ist es das Rosenstein-Quartier, das in kommunalpolitischen Debatten regelmäßig voller Zuversicht erwähnt wird und die große Not lindern soll: Sobald der Hauptbahnhof im Zuge von Stuttgart21 unter die Erde verlegt ist und die alten Gleise verschwunden sind, werde das neue Viertel mit bis zu 7.500 Wohnungen für Milderung sorgen. Allerdings lässt sich dieses Vorhaben frühestens ab 2032 in die Tat umsetzen, und wenn es blöd läuft, erst ab 2037.
Die Stadt habe „trotz großer Herausforderungen die Trendumkehr geschafft“, urteilte Stuttgarts damaliger Finanzbürgermeister Michael Föll, ein CDUler, im Juni 2018. Das war ein Jahr bevor die Stadt den Langzeit-Spitzenreiter München bei den Mietpreisen überholte. Nach wie vor verschwinden in Stuttgart mehr Sozialwohnungen vom Markt als neue entstehen. Da dürfte es um die Chancen auf einen grundlegenden Richtungswechsel in Berlin etwas besser bestellt sein. Schaut auf diese Stadt!
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